Der weite Himmel: Roman (German Edition)
weiter mit den Hühnern spielen. Im Moment jedenfalls.« Und nur der Moment zählte, entschied sie, während
sie zusah, wie das neugeborene Kalb zum ersten Mal zu saugen begann.
»Und sie steckte bis zu den Ellbogen in einer Kuh.« Tess erschauerte und blickte angelegentlich in ihr Brandyglas. Der Abend war kalt und klar hereingebrochen, ein behagliches Feuer prasselte im Kamin, und Nate war zum Abendessen vorbeigekommen. Die Kombination dieser angenehmen Umstände hatte sie wieder soweit gestärkt, daß sie ihr Erlebnis zum besten geben konnte, ohne daß die Erinnerung ihr Übelkeit verursachte. »Tief drinnen, um eine andere Kuh herauszuholen.«
»Ich fand es beeindruckend.« Lily genoß ihren Tee und die Wärme von Adams Hand, die auf ihrer lag. »Ich wäre ja gern noch geblieben, aber ich stand euch im Weg.«
»Du hättest ruhig bleiben können.« Willa führte sich eine Mischung aus Kaffee und Brandy zu Gemüte. »Wir hätten schon eine Beschäftigung für dich gefunden.«
»Wirklich?« Tess’ Begeisterung bei dem Vorschlag hielt sich in Grenzen. Dagegen strahlte Lily Willa an. »Ich würde furchtbar gerne morgen mithelfen.«
»Du hast nicht genug Kraft, um die Kälber zu holen, aber du kannst ihnen ihre Medikamente verabreichen. Jetzt zu dir«, fuhr Willa fort, wobei sie Tess einen langen, abschätzenden Blick zuwarf. »Du bist eine große, stämmige Frau. Ich wette, du könntest ein Kalb auf die Welt holen, ohne dabei außer Puste zu geraten.«
»Dafür gerät ihr Magen in Aufruhr«, warf Nate ein und erntete von allen anerkennendes Gekicher, in das Tess allerdings nicht einstimmen konnte.
»Sicher könnte ich das.« Anmutig strich sich Tess das Haar zurück. Die Ringe an ihren sorgfältig manikürten Fingern glitzerten. »Wenn ich wollte.«
»Zwanzig Dollar, daß du kneifst, noch ehe du bis zu den Handgelenken in der Kuh steckst.«
Mist, dachte Tess. Jetzt war sie in die Enge getrieben worden. »Fünfzig Mäuse, und ich bin dabei.«
»Abgemacht. Morgen kannst du beweisen, wozu du zu
gebrauchen bist. Und die Ranch legt für jedes Kalb, das du holst, noch zehn Dollar drauf.«
»Zehn Dollar.« Tess schnaubte verächtlich. »Tolles Geschäft.«
»Hol genug, dann kannst du dir, wenn du das nächste Mal in Billings bist, einen Besuch beim Nobelfriseur leisten.«
Wieder fuhr sich Tess durchs Haar. Sie mußte es wirklich dringend schneiden lassen. »Na gut. Ich schätze, du wirst auch noch eine Gesichtsbehandlung springen lassen müssen.« Sie hob die Augenbrauen. »Du könntest übrigens selbst eine brauchen. Und eine Lotion für deine Hände, es sei denn, es gefällt dir, wenn deine Haut an altes Leder erinnert.«
»Ich kann meine Zeit nicht damit verschwenden, in irgendwelchen dämlichen Kosmetikstudios herumzusitzen.«
Tess ließ ihren Brandy im Glas kreisen. »Feigling.« Hastig fuhr sie fort, bevor Willa eine passende Antwort einfiel: »Ich wette, daß ich genauso viele Kälber auf die Welt hole wie du. Wenn ich das schaffe, finanziert die Mercy Ranch uns dreien – mir, dir und Lily – ein Wochenende in einem Kurhotel in Big Sky. Das würde dir doch gefallen, nicht wahr, Lily?«
Zwischen ihren beiden Schwestern hin- und hergerissen, zögerte Lily. »Nun, ich …«
»Wir könnten bei der Gelegenheit schon ein paar Einkäufe für die Hochzeit tätigen und in den Geschäften stöbern, die Shelly dir empfohlen hat.«
»Oh.« Diese Vorstellung veranlaßte Lily, Adam mit einem verträumten Lächeln zu bedenken. »Das wäre herrlich.«
»Hexe«, flüsterte Willa Tess zu, aber es klang nicht bösartig. »Also einverstanden. Wenn du verlierst, wirst du wieder zum Wäschewaschen abkommandiert.«
»Uups.« Nate duckte sich über sein Brandyglas, als Tess ihn giftig ansah.
»In der Zwischenzeit muß ich noch die Geburtenliste von heute vervollständigen.« Willa stand auf und streckte sich. Dann erstarrte sie plötzlich. War da ein Schatten am Fenster gewesen? Oder gar ein Gesicht? Langsam ließ sie die Arme sinken und bemühte sich, eine möglichst unbeteiligte Miene
zu wahren. »An deiner Stelle würde ich nicht so lange aufbleiben«, empfahl sie Tess, als sie sich zur Tür wandte. »Du mußt morgen topfit sein.«
»Ich freue mich schon darauf, dich unter deiner Gesichtsmaske stöhnen zu hören«, rief Tess ihr nach und beobachtete triumphierend, wie Willa sich ruckartig umdrehte und ein Ausdruck reinsten Entsetzens auf ihr Gesicht trat. »Ich liebe es, das letzte Wort zu behalten«,
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