Der weite Himmel: Roman (German Edition)
getrauert, aber du warst entschlossen, damit fertig zu werden. Und später, als Nate das Testament verlesen hat und du erfahren
mußtest, daß alles, was dir gehört oder dir hätte gehören sollen, deiner Kontrolle entzogen werden würde, da warst du bereit zu kämpfen.«
Auch Willa erinnerte sich an diesen Tag; erinnerte sich daran, wie unfreundlich und abweisend sie sich verhalten hatte. »Mir blieb nicht viel anderes übrig.«
»Es gibt immer mehrere Möglichkeiten«, erwiderte Lily ruhig. »Ich habe für gewöhnlich die Flucht gewählt, und ich wäre auch an jenem Tag wieder davongelaufen, wenn ich nur gewußt hätte, wohin. Ich glaube nicht, daß ich ohne dich den Mut gefunden hätte, hierzubleiben, nachdem all diese entsetzlichen Dinge passiert sind.«
»Ich hatte mit deiner Entscheidung überhaupt nichts zu tun. Du bist wegen Adam geblieben.«
»Adam.« Lilys Gesichtszüge wurden weich. »Ja. Aber ich hätte ohne dich vielleicht nie gewagt, auf ihn zuzugehen; mir meine Gefühle für ihn einzugestehen. Aber dann habe ich an dich gedacht, an alles, was du leistest und schon geleistet hast, und da habe ich mir gesagt: Sie ist meine Schwester, und sie ist noch nievoreinem Problem davongelaufen. Etwas von dieser Kraft muß doch auch in mir stecken, also habe ich versucht, diese Kraft zu aktivieren. Deshalb habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben dem gestellt, was auf mich zukam.«
Willa schob ihre Kaffeetasse beiseite und beugte sich vor. »Schau mal, Lily, ich bin ja auch frei von allen Zwängen aufgewachsen und habe stets nur das getan, was ich wollte. Ich hatte nie eine Beziehung, in der mich jemand als Prügelknaben benutzt hat.«
»Wirklich nicht?« Als Willa schwieg, fuhr Lily ermutigt fort: »Bess hat mir erzählt, wie streng unser Vater mit dir umgegangen ist.«
Bess redete entschieden zuviel, war alles, was Willa dazu einfiel. »Hin und wieder eine elterliche Ohrfeige zu bekommen ist bei weitem nicht so schlimm wie Fausthiebe von einem Ehemann. Davor wegzulaufen war nicht feige, Lily. Es war richtig, das Beste, was du tun konntest.«
»Mag sein. Aber ich habe mich nie zur Wehr gesetzt. Nicht ein einziges Mal.«
»Ich auch nicht«, murmelte Willa. »Ich bin zwar vor meinem Vater nicht davongelaufen, aber ich habe mich auch nie gewehrt.«
»Doch, das hast du. Du hast es ihm heimgezahlt, und zwar jedesmal, wenn du auf ein Pferd gestiegen bist, ein Kalb auf die Welt geholt oder die Zäune überprüft hast.« Lily wich Willas Blick nicht aus. »Du hast Mercy zu deiner Ranch gemacht, dadurch hast du zurückgeschlagen. Du hast dir ein eigenes Leben aufgebaut. Ich kannte ihn nicht, denn er hat sich ja nie die Mühe gemacht, mich kennenzulernen. Aber, Willa, ich glaube auch nicht, daß er dich wirklich gekannt hat.«
»Nein. Nein, das hat er vermutlich nicht.«
Lily holte tief Atem. »Jetzt bin ich bereit, mich zu wehren, und das verdanke ich zum großen Teil dir, Tess und der Tatsache, daß ich hier auf Mercy die Chance bekommen habe, noch einmal von vorne anzufangen. Diese Chance verdanke ich nicht Jack Mercy, sondern dir. Eigentlich hättest du uns hassen müssen, du hattest guten Grund dazu. Aber das tust du nicht.«
Aber sie hätte es gerne getan, erinnerte sich Willa voller Scham. Es war ihr nur einfach nicht möglich gewesen. »Vielleicht liegt das daran, daß Haß viel zuviel Energie aufzehrt.«
»Das ist richtig, aber nicht jeder Mensch begreift es.« Lily spielte mit ihrer Tasse. »Als Tess und ich gestern einkaufen waren, dachte ich einen Augenblick lang, ich hätte Jesse gesehen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber …«
»Du hast ihn in Ennis gesehen?« Willa schoß von ihrem Stuhl hoch und ballte die Fäuste.
»Nein.« Lily lächelte leicht, als sie den wütenden Gesichtsausdruck ihrer Schwester bemerkte. »Siehst du, deine erste Reaktion ist, sich zur Wehr zu setzen. Meine erste Reaktion bestand immer darin, die Flucht zu ergreifen. Früher habe ich mir ständig eingebildet, ich würde Jesse irgendwo sehen. Das grenzte schon an Verfolgungswahn. Seit einiger Zeit hat sich das gelegt. Aber gestern, dieses Gesicht in der Menge, diese Kopfhaltung … trotzdem bin ich weder davongelaufen noch in Panik geraten. Und ich glaube, wenn es sein muß,
wenn mir wirklich keine Wahl bleibt, dann würde ich mich wehren. Das bin ich dir schuldig.«
»Ich weiß nicht, Lily. Manchmal ist es vielleicht besser, man läuft davon.«
Der Abend verlief so harmonisch, daß Lily kaum
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