Der weite Himmel: Roman (German Edition)
voranritt. Sie konnte bereits die ersten Sterne sehen. »Wenn die Wolken sich verziehen, dann haben wir Halbmond und somit wenigstens ein bißchen Licht.«
»Das würde uns die Suche erleichtern.« Ben warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie saß kerzengerade im Sattel und zeigte äußerlich keine Anzeichen von Ermüdung. Allerdings konnte er ihre Augen nicht deutlich erkennen. »Hältst du durch?«
»Selbstverständlich. Du, Ben …«
Ben verlangsamte sein Tempo, da er fürchtete, sie könne kurz vor dem Zusammenbruch stehen und seine Unterstützung brauchen. »Möchtest du dich einen Augenblick ausruhen ?«
»Nein, nein. Aber mir geht da eine Sache einfach nicht aus dem Kopf. Irgend etwas an dem Scheißkerl kam mir bekannt vor, als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte. Andererseits war es dunkel, und ihm lief das Blut in Strömen über das Gesicht, weil Lily ihn gekratzt hatte.« Willa schob ihren Hut zurück, da sie das Gewicht auf dem Kopf plötzlich störte. »Ich hab’ Billy ja sofort in Bess’ Obhut übergeben, ohne mir die Zeit zu nehmen, ihm ein paar Fragen zu stellen. Ich glaube, das war ein großer Fehler. Hätte ich es getan, dann wüßten wir jetzt vielleicht, wie sein Verstand arbeitet.«
»Du hattest an genug andere Dinge zu denken. Mach dir deshalb keine Vorwürfe.«
»Du hast recht.« Trotzdem ließ sie die vage Erinnerung nicht los. »Daran läßt sich jetzt sowieso nichts mehr ändern.« Energisch rückte Willa ihren Hut wieder zurecht und trieb Moon zu einer etwas schnelleren Gangart an.
»Jetzt müssen wir uns einzig und allein darauf konzentrieren, Lily zu finden.« Sie lebend zu finden, dachte sie, doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen.
In der Höhle war es stockfinster. Lily vermeinte zu verbrennen, dann zu erfrieren, dann wieder im Feuer zu verglühen. Unruhig, von Fieberträumen geschüttelt, wälzte sie sich hin und her. Ihre Hände waren kalt und gefühllos, nur die Handgelenke schmerzten dort, wo der Strick die zarte Haut bis auf das rohe Fleisch aufgescheuert hatte. Wie ein hilfloses Tier rollte sie sich schutzsuchend zusammen, träumte davon, sich eng an Adam zu schmiegen, seinen Arm zu spüren, den er des Nachts oft um sie legte, um sie an sich zu ziehen, so daß sie sich warm, sicher und geborgen fühlte.
Jedesmal, wenn sich die Steine, die den Boden der Höhle bedeckten, in ihre Schultern, den Rücken und die Hüften drückten, sobald sie sich bewegte, wimmerte sie leise auf, obwohl ihr der Schmerz irgendwie losgelöst von ihrer Person erschien. Sie war in einem nebelhaften Zustand zwischen Traum und Realität gefangen, und sosehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, sich daraus zu befreien.
Als ein Lichtstrahl über ihr Gesicht huschte, wandte sie sich unwillig ab. Sie wollte nur noch schlafen, vergessen. Leise murmelnde Laute kamen über ihre Lippen, als das Fieber stärker und stärker in ihr zu toben begann.
Schritte, dachte sie benommen. Sie war in Adams Haus. Gleich würde er zu ihr ins Bett kommen. Sein Körper würde sich anfangs ein wenig kühl anfühlen, sich aber rasch erwärmen. Wenn es ihr doch nur gelänge, sich umzudrehen; wenn sie es schaffen könnte, sich in seine Arme zu kuscheln, dann würde sich sein Mund weich auf ihre Lippen legen, und er würde sie lieben, langsam und zärtlich, wie er es oft tat, wenn er spät nachts von seinem Wachposten zurückkehrte.
Sie würden noch nicht einmal Worte wechseln müssen; sie kamen ohne sie aus, brauchten nur die Berührung des anderen und jenen gleichmäßigen Rhythmus zweier Körper, die sich in völligem Einklang bewegten. Danach würden sie engumschlungen einschlafen …
Als sie gerade im Begriff war, in das Vergessen hinüberzudriften, meinte sie, einen erstickten Schrei zu hören, der abrupt abbrach. Sicher war eine Maus in eine Falle geraten.
Adam würde sie entfernen, bevor sie den pelzigen Leichnam zu Gesicht bekam.
Lily versank in schwarzer Bewußtlosigkeit. So spürte sie weder, wie ein Messer zwischen ihre Handgelenke glitt und die Stricke durchtrennte, noch die plötzliche Wärme, die sie einlullte, als Jesses schwerer Mantel über sie geworfen wurde. Doch sie flüsterte Adams Namen, als der Mann, der über ihr stand und von dessen Händen Blut tropfte, sein Messer wieder in die Scheide schob.
Er bedauerte, daß er so rasch hatte zu Werke gehen müssen. Die Zeit war für die Feinheiten, auf die er solchen Wert legte, zu knapp gewesen. Er konnte sich glücklich schätzen,
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