Der weite Himmel: Roman (German Edition)
mußte wieder zu Kräften kommen, um so lange durchhalten zu können, bis Adam sie fand. Oder bis sie Jesse entkommen konnte. Sie rollte sich an der Wand zusammen, wobei sie soviel Abstand zu Jesse hielt, wie der Strick es ihr erlaubte, und schlang die Decke eng um ihren Körper. Er würde jetzt weitertrinken, bis die Flasche leer war. Sie kannte
ihn nur zu gut. Und wenn er dann stockbetrunken war, hatte sie vielleicht eine reelle Chance zur Flucht.
Doch zuerst mußte sie schlafen. Die Erschöpfung umschloß sie wie ein dichter Nebel, und die Kälte drang ihr durch Mark und Bein. Sie hörte das Gluckern der Flüssigkeit, als Jesse die Flasche ansetzte, und fühlte, wie sie langsam in den Zustand der Bewußtlosigkeit hinüberglitt. Aber eines mußte sie noch in Erfahrung bringen, ehe sie einschlief.
»Warum hast du all diese Menschen getötet, Jesse? Warum hast du so furchtbare Dinge getan?«
Er kicherte leise, als sei er im Begriff, eine besonders witzige Bemerkung von sich zu geben. »Ein Mann tut, was er tun muß.«
Es waren dies die letzten Worte, die er je zu ihr sagen sollte.
Kapitel 7
Adam stand auf einer kalten, zugigen Anhöhe, starrte in die Dunkelheit und versuchte verzweifelt, darin etwas zu erkennen. Nur der Strahl seiner Taschenlampe und die Lichter hinter ihm brachten ihm in der bedrohlichen Finsternis etwas Erleichterung.
»Er hat seine Richtung geändert. Die Spur führt nicht mehr zur Hütte.« Ben blickte zum Himmel und schätzte die verbleibenden Stunden bis zum Morgengrauen. Wenn doch nur endlich die Sonne herauskommen würde! Bei Tageslicht würden sie vielleicht weitere Hinweise entdecken und mußten sich nicht nur auf die Hunde verlassen, die Lilys Witterung aufgenommen hatten. Bei Tageslicht würde die Hubschrauberstaffel zum Einsatz kommen, und sein Bruder würde in seinem kleinen Flugzeug sitzen und jeden Baum, jeden Felsvorsprung aus der Luft nach Lily absuchen.
»Er will sie irgendwo anders hinbringen.« Adam lauschte in die Nacht, als ob der Wind ihm etwas erzählen könnte. »Er muß einen anderen Unterschlupf kennen. Nur ein Wahnsinniger
käme auf den Gedanken, nachts und zu Fuß die Berge überwinden zu wollen.«
Der Mann, der zwei Menschen buchstäblich in Fetzen gerissen hatte, war wahnsinnig, dachte Ben grimmig, doch er behielt seine Meinung für sich. Dieser Gedanke war nicht geeignet, Adam jetzt aufzumuntern. »Er hat unter Garantie irgendwo ein Lager aufgeschlagen. Wir werden ihn finden.«
»Der Schneefall hat nachgelassen, und der Sturm ist nach Osten abgezogen. Sie war für eine Nacht in der Kälte viel zu dünn gekleidet.« Adam schaute angelegentlich vor sich hin und konzentrierte sich darauf, tief und gleichmäßig Luft zu holen, obwohl er innerlich zitterte wie Espenlaub. »Lily friert doch nachts so leicht. Sie hat so zarte Knöchelchen wie ein kleiner Vogel.«
»Er kann nicht allzu weit vor uns sein.« Ben legte Adam tröstend eine Hand auf die Schulter. Mehr konnte er im Moment nicht für ihn tun. »Denk daran, sie sind zu Fuß unterwegs. Sie müssen irgendwo eine Pause machen.«
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Laß mich mit ihm allein. Wenn wir sie finden, dann kümmerst du dich um Lily und Will und überläßt Cooke mir.« Adam drehte sich zu Ben um, seine für gewöhnlich so sanft und freundlich blikkenden Augen wirkten jetzt kalt und hart wie der Fels, auf dem sie standen. »Ich will eigenhändig mit ihm abrechnen.«
Eine berechtigte Forderung, dachte Ben, nicht mehr und nicht weniger, als er selbst sich unter diesen Umständen ausbedungen hätte. »Ich werde ihn dir überlassen.«
Willa beobachtete die beiden von ihrem Posten bei den Pferden aus. Sie hatte ihr ganzes Leben in einer Männerwelt gelebt, gearbeitet und sich behauptet. Daher verstand sie, daß es Momente gab, wo eine Frau die Grenze nicht überschreiten durfte. Was Adam und Ben gerade besprachen, war nicht für ihre Ohren bestimmt, und sie akzeptierte diese Tatsache ohne Murren. Was dort auf der Anhöhe vor sich ging, war nicht nur eine Angelegenheit zwischen zwei Männern, sondern auch zwischen zwei Brüdern.
Das Schicksal ihrer Schwester lag in den Händen dieser beiden Männer. Und in ihren.
Als Ben und Adam langsam auf sie zukamen, nahm sie Lilys Bluse und ließ die Hunde noch einmal daran schnuppern. Vor Erregung zitternd, jaulten sie auf und wandten sich in Richtung Süden.
»Der Himmel klart auf«, bemerkte Willa, als sie wieder auf die Pferde stiegen und Adam
Weitere Kostenlose Bücher