Der weite Himmel: Roman (German Edition)
Aushalten!«
Willa und Tess gehorchten augenblicklich und sahen fassungslos zu, wie Lily eine Vase ergriff und mit aller Kraft durch den Raum schleuderte. »Von mir aus könnt ihr weiterdiskutieren, bis ihr schwarz werdet, aber nicht über Dinge, die nur mich etwas angehen, ist das klar? Ich lasse mich nicht länger bevormunden, ich lasse mich nicht länger kontrollieren, und ich lasse mich schon gar nicht weiterhin aufs Abstellgleis schieben. Und hört um Himmels willen auf, mich anzusehen, als könnte ich jeden Moment in tausend Stücke zerspringen. Diese Gefahr besteht nämlich nicht. Ich bin wieder gesund!«
»Lily.« Adam trat vorsichtig über die Schwelle. Da er sich nicht sicher war, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, blieb er ruhig stehen und schlug einen beschwichtigenden Ton an. »Ich wollte dich nicht aufregen. Wenn du noch Zeit brauchst …«
»Jetzt fang du nicht auch noch an!« Außer sich vor Zorn trat Lily gegen die am Boden liegenden Papiere. »Das ist es ja gerade, was ich meine. Daß mir ja niemand Lily aufregt! Sie muß sich schonen, also packt sie bitte in Watte! Behandelt Lily bloß nicht wie eine normale, gesunde Frau. Das arme Ding könnte ja zerbrechen!«
Sie wirbelte herum; ihre Augen schleuderten wütende Blitze in die Runde. »Ich bin es, die Jesse mißhandelt hat. Mich hat er mit einer Waffe bedroht. Ich bin es, die er in die Berge verschleppt, in den Schnee gestoßen und wie einen Hund an einem Strick hinter sich hergezogen hat. Aber ich habe es überlebt. Ich bin damit fertig geworden, und es ist an der Zeit, daß ihr das auch tut.«
Es war Adam, der die Bilder wieder mit aller Deutlichkeit vor sich sah und der jetzt die Fassung verlor. »Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Es vergessen? So tun, als wäre nichts geschehen?«
»Du sollst damit leben, genau wie ich. Du hast mir keine einzige Frage gestellt.« Lilys Stimme brach, doch sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Nein, sie würde nicht zusammenbrechen, schwor sie sich. Und sie würde auch nicht anfangen zu weinen. »Hattest du Angst vor den möglichen Antworten? Vielleicht willst du mich nach allem, was passiert ist, ja gar nicht mehr.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«
Lily versuchte, ihrer Stimme einen kühlen, sachlichen Klang zu geben, obwohl ihr das Herz inzwischen bis zum Hals schlug. »Du hast mich nicht mehr angerührt, Adam, seit Jesse mich entführt hat.« Unwillig schüttelte sie den Kopf, als Willa und Tess Anstalten machten, das Zimmer zu verlassen. »Nein, bleibt nur hier. Das geht euch genauso an wie Adam und mich. Ihr habt auch kein Wort über die Sache verloren, also laßt uns jetzt darüber reden. Hier und jetzt.«
Verstohlen wischte sie sich eine Träne von der Wange und hoffte, es würde die letzte sein, die sie nicht zurückzuhalten vermochte. »Warum hast du mich nicht mehr angefaßt, Adam? Liegt es daran, daß du glaubst, Jesse hätte mich vergewaltigt, und du willst mich unter diesen Umständen nicht mehr?«
»Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.« Adam trat einen Schritt auf sie zu, dann blieb er stehen. »Ich habe Cooke nicht aufgehalten. Ich habe mein Versprechen, dich vor ihm zu schützen, gebrochen. Und ich habe Angst, dich zu berühren, weil ich nicht weiß, wie du darauf reagierst.«
Lily schloß einen Moment lang die Augen. Warum hatte sie nicht schon viel früher erkannt, daß er jetzt der Verwundbarere von ihnen beiden war? Nun war es an ihr, Stärke zu zeigen. »Du hast mich nicht im Stich gelassen.« Sie betonte bewußt jedes einzelne Wort, da sie hoffte, er würde verstehen, wieviel ihr diese Tatsache bedeutete. »Dein Gesicht war das erste, was ich sah, als ich aus dieser Höhle stolperte, fort von … von dem, was da lag. Du warst der erste Mensch, den ich nach all dem Schrecken gesehen habe, und das ist einer der Gründe, warum ich mit der Erinnerung leben kann.«
Mühsam holte sie Atem, verschluckte sich beinahe, versuchte es erneut und stellte fest, daß sich der Kloß in ihrer Kehle lockerte. »Während der ganzen Zeit, in der er mich in seiner Gewalt hatte, wußte ich, daß du kommen würdest. Dieses Wissen hat mir die Kraft gegeben, alles zu überstehen und mich zu wehren.«
Sie blickte ihre Schwestern an. Auch sie sollten begreifen, wie sehr ihr eine offene Aussprache am Herzen lag. »Ich habe mich gewehrt, so gut ich konnte, und ich habe durchgehalten, so wie ihr es an meiner Stelle getan hättet. Er hatte zwar eine Waffe, und er war mir
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