Der weite Himmel: Roman (German Edition)
zwei Finger unter das Kinn, drehte seinen Kopf ein Stück zur Seite und sprach das aus, was sie am meisten bewegte. »Ich möchte ein Kind mit dir haben. Schenk mir ein Kind, Adam! Heute!«
Gerührt lehnte er seine Stirn gegen ihre. »Lily …«
»Jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür.« Sie nahm seine Hand und führte sie an ihre Lippen. »Bring mich nach Hause, Adam, und komm mit ins Bett!«
Vom Fenster aus beobachtete Tess, wie Lily und Adam auf das weiße Häuschen zugingen. Ihr fiel der Tag ein, an dem sie die beiden zum ersten Mal zusammen gesehen hatte. Es war der Tag des Begräbnisses gewesen. »Komm mal her«, rief sie Willa zu.
»Was gibt’s denn?« Ein wenig ungeduldig gesellte sich Willa zu ihr ans Fenster, dann breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Na Gott sei Dank.« Als einige
Sekunden später die Läden des Schlafzimmerfensters geschlossen wurden, kicherte sie leise. »Sieht aus, als würde die Hochzeit doch stattfinden.«
»Dann sieh zu, daß du gestreifte Sonnenschirme herbeischaffst.«
»Du bist ein Biest.«
»Das sagen sie alle, Will.« Tess legte ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter. »Bleibt es dabei, daß du morgen die Viehherden in die Berge treibst?«
»Jawohl.«
»Ich möchte gerne mitkommen.«
»Sehr komisch.«
»Nein, es ist mein Ernst. Reiten kann ich ja, und ich glaube, es wäre eine interessante Erfahrung für mich, auch beruflich gesehen. Und da Adam dich begleitet, sollte Lily auch mit von der Partie sein. Es ist sicherer für uns alle, wenn wir zusammenbleiben.«
»Ich wollte Adam eigentlich bitten hierzubleiben.«
Tess schüttelte den Kopf. »Du brauchst Leute, denen du vertrauen kannst. Und Adam würde um nichts in der Welt hierbleiben, auch nicht, wenn du ihn darum bittest. Also kommen Lily und ich auch mit.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt. Dann habe ich gleich zwei Greenhorns am Hals.« Willa mochte nicht zugeben, daß sie auch schon an diese Möglichkeit gedacht und das Für und Wider erwogen hatte. »Die McKinnons treiben ihre Herde am selben Tag rauf. Wir nehmen einen Mann mit, und Ham soll die übrigen beaufsichtigen. Sieh zu, daß du heute nacht deinen Schönheitsschlaf bekommst, Hollywood. Im Morgengrauen brechen wir auf.«
Das einzige, was noch fehlte, dachte Tess, als sie sich bei Tagesanbruch gähnend im Sattel räkelte, war die Titelmelodie von Rawhide . Leise summte sie die Töne vor sich hin und versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, der ihr nur von der Barszene aus dem Film Blues Brothers her vertraut war.
Hieß es ›Cut ’em in‹ oder ›Head ’em out‹?
›Head ’em out‹ wurde zum Sieger erklärt, denn genau das rief Willa in diesem Augenblick in den nebligen Morgen hinaus.
Es war ein beeindruckender Anblick, fand Tess. Unzählige Rinderleiber wogten vorwärts, während sich die Reiter auf ihren ausgeruhten, munteren Pferden am Rande der Herde hielten und Ausreißer in die Reihe zurücktrieben. Sie alle bewegten sich durch die dünnen Nebelschleier hindurch, die sich wie durch Zauberhand vor ihnen auftaten, während die ersten Sonnenstrahlen auf dem taubedeckten Gras glitzerten.
Im Westen erhoben sich die silberweißen Berge majestätisch gen Himmel.
Dann drehte sich Willa im Sattel um und schrie Tess zu, sie solle gefälligst ihren Hintern in Bewegung setzen. Was, wie Tess grinsend feststellte, ein perfektes Bild vervollständigte. Ein wenig verspätet trieb sie ihr Pferd an, um die anderen einzuholen.
Nein, eine Kleinigkeit fehlte Tess noch, als das Trommeln von Hufen, lautes Gemuhe und die Zurufe der Treiber die Luft erfüllten. Nate. Zum ersten Mal wünschte sie, er würde außer Pferden auch Rinder züchten, dann wäre er jetzt vielleicht an ihrer Seite.
»Du sollst nicht nur zu deinem Vergnügen mitreiten«, rief Willa, die längsseits neben ihr aufgetaucht war. »Halt sie in der Reihe. Wenn du eines verlierst, fängst du es auch wieder ein.«
»Als ob ich ein dickes, fettes Rindvieh verlieren könnte«, knurrte Tess, trotzdem versuchte sie, Willas Kommandopfiffe und die Art, wie ihre Schwester mit dem aufgerollten Lasso gegen den Sattel schlug, nachzuahmen.
Tess hatte man kein Lasso zugestanden, so benutzte sie ihre Hand, und später, als mehrere hundert Hufe Staub aufwirbelten, bemühte sie sich, mit der freien Hand ein Tuch vor den Mund zu halten.
»Ach du lieber Himmel!« Willa verdrehte die Augen, schlug einen Bogen und ritt auf Tess zu. »Doch nicht so, du
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