Der weite Himmel: Roman (German Edition)
zwischen den gezackten Felsen hindurch und über die grünen Wipfel dahin.
»Ein gutes Fischfanggebiet.« Willa stützte sich auf ihren Sattelknauf. »Die Leute kommen von überall her, um in diesem Fluß zu angeln. Ich selber hab’ ja nicht allzuviel dafür übrig, aber ich muß zugeben, es sieht toll aus, wenn die Angelschnüre durch die Luft zischen und dann fast lautlos im Wasser landen. Weiter unten, hinter der Biegung, liegen ein paar Stromschnellen, da machen sich die Touristen einen Spaß daraus, sich in Kajaks zu quetschen und hindurchzujagen. Ich für meinen Teil halte mich da lieber an die Pferde.«
Tess fragte sich, wie es wohl sein mochte, in einem kleinen Boot jene Stromschnellen hinunterzuschießen. Sie empfand eine kribbelnde, elektrisierende Freude bei der Vorstellung, den Fluß herauszufordern.
»Die Aussicht ist auch noch da, wenn wir zurückkommen.« Willa wendete ihr Pferd. »Montana verändert sich so schnell nicht. Komm jetzt, wir verlieren den Anschluß.«
»Okay.« Das Bild würde ohnehin, zusammen mit unzähligen anderen Eindrücken, unauslöschlich in ihrem Herzen verankert bleiben. Tess trieb ihr Pferd an und fand bald den Anschluß an die unermüdlich weiterziehende Herde.
Die Luft kühlte sich empfindlich ab, und je höher sie kamen, desto häufiger entdeckte Tess Schneereste unter den Bäumen und am Fuß der Felsen. Doch immer noch reckten die ersten Frühlingsblumen unverdrossen die Köpfe ans Licht; Bergklematis und leuchtendvioletter Rittersporn bildeten fröhliche Farbtupfer in der Landschaft, und eine Wiesenlerche schmetterte ein vergnügtes Lied.
Wenig später machten sie Rast, um die Pferde ausruhen zu lassen und rasch ein paar Happen zu essen, und Tess holte fröstelnd ihre Jacke aus der Satteltasche.
»Um Himmels willen, bind dein Pferd nicht an!« Willa stieß einen gottergebenen Seufzer aus, nahm ihrer Schwester die Zügel aus der Hand und versetzte dem Tier einen leichten Klaps, woraufhin es langsam davontrottete.
»Was, zum Teufel, machst du denn da?« Tess setzte dem Pferd mit zwei großen Sprüngen nach, bis sie einsah, daß sie es nicht mehr einholen würde. »Was soll ich denn jetzt tun? Zu Fuß gehen?«
»Essen.« Willa hielt ihr ein Sandwich unter die Nase.
»Großartig, einfach großartig. Ich lasse mir ein Roastbeefsandwich schmecken, während mein Gaul seelenruhig nach Hause läuft.«
»Keine Sorge, der bleibt in der Nähe. Du kannst hier oben dein Pferd nicht einfach anbinden und dich dann unter einen Baum setzen und es dir gemütlich machen.« Ein Lächeln trat auf Willas Gesicht, als sie Ben entdeckte, der auf sie zugeritten kam. »Hey, McKinnon, hast du Langeweile, oder willst du dir ein Mittagessen schnorren?«
»Ich hatte gehofft, für mich würde hier ein Sandwich abfallen.« Er stieg ab und gab seinem Pferd ebenfalls einen lässigen Klaps, so wie Willa es mit Tess’ Tier gemacht hatte. Sprachlos sah diese dem davontrabenden Hengst nach.
»Seid ihr alle verrückt geworden? Wenn das so weitergeht, können wir bald auf Schusters Rappen weiterreiten.«
Ben nahm das Sandwich, das Tess ihm gab, biß hinein und blinzelte Willa zu. »Wollte sie ihr Pferd anbinden?«
»Genau. Typisch Greenhorn.«
»In den Bergen bindet man die Pferde nicht an«, erklärte Ben mit vollem Mund. »Raubkatzen. Bären.«
»Wovon redest du – Raubkatzen?« Tess blickte erschrokken, sie drehte sich einmal im Kreis und musterte ihre Umgebung argwöhnisch. »Du meinst, hier gibt es Berglöwen? Und Bären?«
»Raubtiere eben.« Willa nahm Ben den Sandwichrest aus der Hand und schob ihn sich in den Mund. »Wenn du ein
Pferd anbindest, hat es nicht die geringste Chance. Wie weit bist du denn mit deiner Herde hinter uns, Ben?«
»Ungefähr eine Viertelmeile.«
»Aber …« Tess dachte an ihr Gewehr, das noch immer am Sattel hing. »Welche Chance haben wir denn?«
»Ach, so ungefähr fünfzig zu fünfzig«, meinte Ben gedehnt, woraufhin Willa sich vor Lachen bog.
»Lily hat inzwischen vermutlich den Kaffee fertig.«
Ben zog Willa den Hut über die Augen. »Was meinst du denn, wie ich euch gefunden habe, Kid? Ich bin dem Duft gefolgt.«
Tess blieb wie erstarrt stehen, als Ben und Willa zu dem kleinen Lagerfeuer hinüberschlenderten. Dort war Lily mit der Kaffeekanne beschäftigt. Als hinter ihr im Gebüsch ein leises Rascheln ertönte, machte sie einen Satz nach vorne und rannte los, als wäre der Teufel hinter ihr her. »Wartet! Wartet doch auf mich!«
»Deine
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