Der weite Himmel: Roman (German Edition)
mißbilligend mit der Zunge geschnalzt hatte, führte sie sich gerade selbst ein Glas davon zu Gemüte, während sie sich mit einer Nachbarin unterhielt.
Alle wirkten so glücklich wie Miesmuscheln bei Flut, dachte Tess mißmutig und griff nach dem nächsten Petit four. Wie lächerlich zu feiern, wenn sich zwei Menschen für ein ganzes Leben aneinanderketteten. Höhnisch verzog sie den Mund und schielte erneut gierig zu dem Gebäck, zündete sich dann aber lieber eine Zigarette an.
Nate Torrence war es nicht wert, daß ihr seinetwegen noch ein Paar Jeans platzten. Entschlossen schnappte sie sich ein Glas Bowle und beschloß, sich statt dessen zu betrinken.
Als die zukünftige Braut zur Tür hereinkam, hatte Tess bereits drei Gläser geleert und befand sich in etwas gelösterer
Stimmung. Sie mußte lachen, als Lily beim Anblick der Gäste Überraschung mimte. Der Empfang war kein Geheimnis mehr gewesen, seit die ersten Einladungen verschickt worden waren. Nun galt es, die Geschenke zu bewundern, unter denen von der Kleiderbürste bis hin zu einem hauchzarten Negligé alles vertreten war.
Tess bemerkte, wie Lilys Mutter mit den Tränen kämpfte und unauffällig aus dem Zimmer huschte.
Eine interessante Frau, dachte sie, während sie ihr Glas nachfüllte. Attraktiv, geschmackvoll gekleidet, offensichtlich sehr kultiviert. Was hatte sie nur in einem ungehobelten Klotz wie Jack Mercy gesehen?
Als Bess zwei Gläser nahm und gleichfalls das Zimmer verließ, zuckte Tess die Achseln und bemühte sich, beim Anblick spitzengesäumter Taschentücher gebührende Begeisterung zu heucheln.
»Hier, Adele.« Bess setzte sich in die Hollywoodschaukel und reichte Adele ein Glas, während diese sich die Tränen vom Gesicht tupfte. »Schon einige Zeit her, seit wir das letztemal hier zusammengesessen haben.«
»Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wieder hier zu sein. Die Ranch hat sich kaum verändert.«
»O doch, einiges schon. Aber du siehst selbst noch fast genauso aus wie damals.«
Eitelkeit gehörte zu Adeles kleinen Schwächen. Automatisch strich sie sich über ihr kurzgeschnittenes, glattes Haar, das noch immer dunkelblond schimmerte.
»Mehr Falten hab’ ich schon«, gab sie mit einem kläglichen Lächeln zu. »Ich weiß wirklich nicht, wo sie immer herkommen, aber jeden Morgen, wenn ich vor dem Spiegel stehe, entdecke ich neue.«
»Das ist der Lauf des Lebens.« Bess musterte ihr Gegenüber verstohlen. Adele hatte noch immer ein hübsches Gesicht mit zarten Zügen und hohen Wangenknochen. Und sie hatte sich in Form gehalten, das sah man ihrer schlanken, geschmeidigen Figur an. Auch ihr Gespür für Farben und Schnitte hatte sie sich bewahrt. Die schmale altrosa Hose und die elfenbeinfarbene Seidenbluse standen ihr ausgezeichnet.
»Deine Tochter ist ein bemerkenswertes Mädchen, Adele. Du kannst stolz auf sie sein.«
»Ich habe mich nie genug um sie gekümmert. Wenn ich sie heute so anschaue, dann denke ich immer an das kleine Mädchen, das sie einmal war und mit dem ich nicht annähernd soviel Zeit verbracht habe, wie ich es hätte tun sollen.«
»Du hattest immerhin deine Arbeit, und du mußtest dir ein eigenes Leben aufbauen.«
»Das ist richtig.« Um ihre überreizten Nerven zu beruhigen, nippte Adele an ihrem Drink. »Die ersten Jahre waren sehr schwer für mich. Damals habe ich Jack Mercy mehr gehaßt als irgend jemanden sonst auf der Welt, Bess.«
»Was ich gut verstehen kann. Er hat dich und deine Tochter schändlich behandelt. Aber ich glaube, dein jetziger Mann entschädigt dich für allen Kummer, nicht wahr?«
»Rob? Er ist ein guter Mensch, obwohl er etwas festgefahrene Ansichten hat.« Ihr Gesicht wurde weich. Sie hatten bislang eine schöne Zeit miteinander verbracht. »Rob ist zwar nicht übermäßig gefühlsbetont, aber er liebt Lily sehr. Heute frage ich mich, ob wir nicht zuviel von ihr erwartet haben, aber wir lieben sie von ganzem Herzen.«
»Das merkt man.«
Eine Weile ließ Adele schweigend die Schaukel hin- und herschwingen. »Was für eine herrliche Aussicht. Ich habe sie nie vergessen können, und ich habe diesen Ort oft vermißt. Unten im Osten fühle ich mich sehr wohl, dort ist alles grün, und das Land wirkt nicht so rauh und abweisend, aber trotzdem habe ich mich oft nach Montana zurückgesehnt.«
»Jetzt, wo Lily hier lebt, kannst du sie ja oft besuchen.«
»Ja, das werde ich tun. Rob reist für sein Leben gern. Bislang haben wir diesen Teil des Landes bewußt
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