Der weite Himmel: Roman (German Edition)
stellte die Koffer vor dem Bett ab, drehte sich um und verließ das Zimmer.
Tess ließ den dritten Koffer auf das Bett fallen, rieb sich die Arme und wartete. »Ich weiß sehr wohl, was ich an ihr habe«, sagte sie, als er mit dem restlichen Gepäck zurückkam. »Sie ist meine Mutter. Wer sonst würde auf einem Hochzeitsempfang in Montana in Caprihosen und Goldlamé aufkreuzen? Ach, wisch dir bloß den Lippenstift ab. Du siehst aus wie ein Clown.«
Sie mühte sich mit dem Riemen eines Koffers ab, öffnete ihn und verdrehte die Augen, als sie den Inhalt musterte. »Wer sonst würde wohl zwanzig Paar Pumps einpacken, wenn er ein paar Wochen auf einer Rinderfarm verbringen will? Und dann dies hier.« Sie zog ein blauviolettes, hauchdünnes Gewand hervor, das am Saum mit Federn besetzt war. »Wer trägt denn solch einen Fetzen?«
Nate inspizierte das Kleid, während er sein Taschentuch wieder einsteckte. »Steht ihr bestimmt gut. Du legst zuviel Wert auf Äußerlichkeiten, Tess, das ist dein größtes Problem.«
»Auf Äußerlichkeiten? Himmel, sie lackiert ihren Hunden die Krallen. Sie stellt sich Gipsschwäne in den Garten, und sie schläft mit Männern, die jünger sind als ich.«
»Und ich nehme an, die Männer betrachten das als Auszeichnung.« Nate lehnte sich gegen den Bettpfosten. »Zack hat sie zu meiner Ranch geflogen und hätte fast eine Bruchlandung fabriziert, weil er sich vor lauter Lachen nicht aufs Fliegen konzentrieren konnte. Er sagte, sie hätte ihm Witze erzählt, seit sie Billings verlassen hatten. Mich hat sie gefragt, ob sie später einmal vorbeikommen und sich meine Pferde ansehen dürfte. Sie wäre am liebsten gleich mit mir zu den Ställen gegangen, aber sie konnte es nicht erwarten, dich zu sehen. Dreißig Sekunden, nachdem wir uns kennengelernt hatten, waren wir die besten Freunde. Auf der gesamten Fahrt hat sie fast ausschließlich von dir gesprochen. Ich mußte ihr mindestens ein dutzendmal versichern, daß es dir gutgeht und daß du glücklich bist. Nach schätzungsweise zehn Meilen Fahrt hat sie gemerkt, daß ich in dich verliebt bin, und dann mußte ich anhalten, damit sie ihr Make-up auffrischen konnte, weil ihr vor Rührung die Tränen gekommen waren.«
»Ich weiß, daß sie mich liebt.« Nun fühlte sich Tess wirklich beschämt. »Ich liebe sie doch auch. Es ist nur so, daß …«
»Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach Nate sie kühl. »Sie sagte mir, daß sie überhaupt keinen Groll gegen Jack Mercy hegen würde, weil er ihr ihre Tochter geschenkt hat. Du hast ihr Leben verändert. Sie hat sich durch dich in eine gute Mutter und durch ihn in eine gute Geschäftsfrau verwandelt. Und sie hat sich sehr gefreut, daß sie noch einmal nach Montana zurückkommen kann und Gelegenheit hat, deine Schwestern kennenzulernen. Außerdem ist sie froh, dich zu sehen und zu wissen, daß du das bekommst, was dir rechtmäßig zusteht.«
Er richtete sich auf und sah sie streng an. »Ich werde dir sagen, was ich von Louella Mercy halte, Tess. Ich bewundere sie von ganzem Herzen – eine Frau, die einen schweren Schicksalsschlag gemeistert und sich trotzdem eine Existenz aufgebaut hat. Die ihre Tochter allein großgezogen und ihr ein Heim geschaffen hat, die sich abrackern mußte, damit es dieser Tochter an nichts fehlt. Von ihr hast du dein Rückgrat, deinen Stolz und deine Willenskraft geerbt. Es ist mir
schnurzegal, was sie anzieht, und es würde mich auch nicht stören, wenn sie im Bikini zur Kirche geht. Und du solltest genauso denken.«
Er ließ sie stehen und ging zur Tür hinaus. Tess sank auf die Bettkante und blieb einen Moment reglos sitzen. Sie spürte die Wirkung des Alkohols, der sie in eine weinerliche Stimmung versetzt hatte. Sorgfältig breitete sie das Kleid über das Bett, dann erhob sie sich und begann, die Koffer ihrer Mutter auszupacken.
Als Louella eine Viertelstunde später ins Zimmer kam, hatte sie die Hälfte der Kleider bereits verstaut. »Warum mühst du dich denn damit ab? Unten wird gefeiert!«
»Du wirst ohnehin nie mit dem Auspacken fertig. Ich dachte, ich helfe dir ein bißchen.«
»Ach, laß das doch jetzt sein.« Louella ergriff die Hände ihrer Tochter. »Ich bin gerade dabei, Bess unter Alkohol zu setzen. Sie singt schmutzige Lieder, wenn sie betütert ist.«
»Wirklich?« Tess legte ein Sommerkleid in schreiendem Kirschrot beiseite. »Das muß ich sehen.« Dann drehte sie sich um und lehnte den Kopf an Louellas Schulter. Eine Schulter, die immer für
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