Der weite Himmel: Roman (German Edition)
sie dagewesen war, dachte sie, ohne Bedingungen, ohne Fragen. »Ich bin froh, dich zu sehen, Mom. Wirklich. Ich bin froh, daß du gekommen bist.«
»Was ist denn los mit dir?«
»Keine Ahnung.« Tess schnüffelte und trat einen Schritt zurück. »Es kommt eben alles zusammen.«
»Die letzte Zeit war für dich sicher nicht einfach.« Louella zog ein besticktes Taschentuch hervor und trocknete ihrer Tochter sanft das Gesicht ab.
»Nein, in vieler Hinsicht nicht. Ich fürchte, das Ganze hat mich stärker belastet, als mir bewußt geworden ist. Aber ich komme darüber hinweg.«
»Dessen bin ich mir sicher. Jetzt komm mit nach unten und amüsier dich.« Louella legte Tess einen Arm um die Taille und dirigierte sie zur Tür. »Später machen wir eine Flasche französisches Bubbelwasser auf und reden über alles.«
»Ja, gerne.« Tess hakte sich im Gegenzug bei ihrer Mutter unter. »Das ist eine gute Idee.«
»Dann kannst du mir auch alle Einzelheiten über deinen neuen Freund berichten.«
»Im Moment ist Nate nicht allzugut auf mich zu sprechen.« Bei dem Gedanken kamen ihr schon wieder die Tränen. »Ich kann mich zur Zeit ja selbst nicht so recht leiden.«
»Nun, das läßt sich alles wieder einrenken.« Louella blieb auf der Treppe stehen und lauschte dem Stimmengewirr, das von unten heraufdrang. »Ich mag euch beide.«
»Ich hätte dich bitten sollen, zur Hochzeit zu kommen«, murmelte Tess. »Ich hätte dich schon vor Monaten bitten sollen, mich zu besuchen, statt darauf zu warten, daß Willa dich einlädt. Zum Teil habe ich gezögert, weil ich dachte, es wäre dir unangenehm, zum Teil aber auch, weil ich fürchtete, es könnte mir unangenehm werden. Es tut mir leid, Mom.«
»Herzchen, wir beide sind so verschieden wie Budweiser und Moët. Was nicht heißen soll, daß nicht beide Marken etwas für sich haben. Der Himmel weiß, daß ich mich über dich schon ebenso oft gewundert habe wie du dich über mich.«
Louella drückte ihre Tochter kurz an sich. »Jetzt hör dir dieses Geschnatter an. Wie im Hühnerstall. Erinnert mich irgendwie an meine Zeit als Revuetänzerin. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Klatsch und Tratsch, deswegen fühle ich mich hier auch sofort heimisch. Und ich mag deine Schwestern wirklich gerne, Tess.«
»Ich auch.« Tess straffte entschlossen die Schultern. »Wir sorgen dafür, daß nichts und niemand uns diese Hochzeit verdirbt.«
Er hegte den gleichen Gedanken. Die Frauenstimmen und das Gelächter im Haus klangen ihm wie süße Musik in den Ohren, und er mußte lächeln, wenn er daran dachte, daß Lily heute im Mittelpunkt stand. Ohne ihn wäre sie jetzt nicht mehr am Leben, und das Wissen um seine geheime Heldentat erfüllte ihn immer noch mit tiefer Freude.
Er hatte sie gerettet, weil er wollte, daß sie heiratet und glücklich wird.
Wenn diese angenehmen Vorstellungen verblaßten, konnte er sich jederzeit das Bild von Jesse Cooke und dem, was er mit dem Kerl gemacht hatte, ins Gedächtnis rufen. Manchmal ließ er vor dem Einschlafen genüßlich jede Einzelheit an sich vorüberziehen, und dann träumte er von Blut und Tod.
Seitdem war er mit äußerster Vorsicht zu Werke gegangen und hatte sich, wenn ihn die Lust zu töten überkam, in die Berge verkrochen und seine Opfer anschließend sorgfältig vergraben. Seltsam, wie übermächtig seine Mordlust inzwischen geworden war, viel stärker als sein Verlangen nach Nahrung oder nach Sex. Bald würde er sie nicht mehr an Hasen, Rehen oder einem Kalb von der Weide stillen können.
Bald würde er wieder einen Menschen töten müssen.
Doch er würde sich zurückhalten, bis Lily verheiratet und in Sicherheit war. Zwischen ihm und ihr bestand nun ein Band, und Menschen gegenüber, an die er sich gebunden fühlte, verhielt er sich absolut loyal.
Er hatte nur Angst gehabt, sie könnte fürchten, daß wieder etwas geschehen würde. Doch er hoffte, ihr diese Sorge genommen zu haben. Mit großer Behutsamkeit hatte er die Notiz verfaßt, hatte jedes einzelne Wort liebevoll auf das Papier gemalt. Nun, nachdem er das Briefchen unter ihrer Küchentür hindurchgeschoben hatte, war ihm wieder leichter ums Herz.
Jetzt würde sich Lily nicht mehr mit schwarzen Gedanken herumquälen. Sie wußte ja, daß jemand über sie wachte. Nun konnte sie unbeschwert ihr Fest genießen, und er konnte von den Hochzeitsglocken träumen, die das Ende seiner selbstauferlegten Enthaltsamkeit verkünden würden.
Als sich der Himmel im Westen rötlich
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