Der weite Himmel: Roman (German Edition)
wieder verschlossen und in den Briefkasten zurückgelegt hatte, war er nach Montana aufgebrochen und dort zwei volle Tage vor seiner schwachsinnigen Frau angekommen. Dieser Vorsprung reichte einem so gewitzten Mann wie ihm allemal, um sich mit der Umgebung vertraut zu machen und sich einen Job auf Three Rocks zu verschaffen.
Einen elenden Scheißjob, dachte er nun. Er mußte die Maschinen und Fahrzeuge in Schuß halten. Nun, mit Motoren kannte er sich aus, und es gab immer einen Jeep, der eine gründliche Überholung benötigte. Wenn er nicht mit Reparaturarbeiten beschäftigt war, mußte er Tag und Nacht die verdammten Zäune überprüfen. Allerdings kam diese Aufgabe seinen Absichten durchaus entgegen, so auch jetzt. Ein Mann, der mit einem allradgetriebenen Geländefahrzeug unterwegs war, um die Zäune auf etwaige Beschädigungen
hin zu untersuchen, konnte jederzeit einen kleinen Abstecher machen und sehen, was sonst noch so vor sich ging.
Und er sah so einiges.
Jesse rieb mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart, den er sich hatte wachsen lassen und den er, genau wie sein Haar, mittelbraun gefärbt hatte. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, dachte er, lediglich eine vorübergehende Tarnung für den Fall, daß Lily Einzelheiten über ihn ausgeplaudert hatte. Wenn dem so war, dann würde man nach einem glattrasierten blonden Mann Ausschau halten. Auch sein Haar ließ er wachsen und würde es auch weiterhin tun, obwohl er damit aussah wie eine verdammte Schwuchtel. Er bedauerte heftig, daß ihn die Umstände zwangen, auf seine gewohnte kurzgeschorene Frisur zu verzichten, die er seit seiner Zeit bei den Marines trug. Aber all diese Opfer würden sich am Ende lohnen, nämlich dann, wenn er Lily zurückbekommen und ihr ein für allemal eingebläut hatte, wer der Boß war. Und bis es soweit war, würde er in ihrer Nähe bleiben und ein Auge auf sie haben.
»Amüsier dich nur, du Miststück«, murmelte Jesse, als er durch das starke Fernglas beobachtete, wie Lily ihr Pferd an Adams Seite lenkte. »Du wirst für jede Minute bezahlen.«
Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu, als Willa endlich ins Haupthaus zurückkehrte. Rinder zu kastrieren und ihnen die Hörner zu kappen war eine unangenehme, schmutzige Arbeit und eine schweißtreibende dazu. Willa wußte nur zu gut, daß sie sich selbst unermüdlich antrieb, und ihr war auch klar, daß sich daran so schnell nichts ändern würde. Sie achtete darauf, sich überall und bei jeder Arbeit blikken zu lassen und immer selbst mit Hand anzulegen. Sogar unter besten Bedingungen brachte ein Führungswechsel innerhalb des Ranchbetriebs Probleme mit sich, und die Bedingungen, unter denen sie die Leitung der Mercy Ranch übernommen hatte, konnte man wahrlich nicht als günstig bezeichnen.
Deswegen war sie auch zur Stelle gewesen, als eine Elchherde einen Zaun niedertrampelte und ein verheerendes
Chaos anrichtete. Und deswegen hatte sie auch persönlich mitgeholfen, die Tiere zu verjagen und den Zaun zu reparieren.
Nun, da ihre Arbeit für heute erledigt war und ihre Männer sich in ihre Unterkünfte zurückgezogen hatten, sehnte sie sich nur noch nach einem Bad und einer warmen Mahlzeit. Sie war die Treppe bereits zur Hälfte hinaufgeeilt, um Wasser einzulassen, als es an der Tür klopfte. Da sie wußte, daß sich Bess in der Küche aufhielt, lief Willa wieder hinunter, um zu öffnen.
Sie begrüßte Ben mit einem finsteren Blick. »Was willst du denn hier?«
»Fürs erste wäre ich mit einem kalten Bier zufrieden.«
»Ich führe hier keine Kneipe.« Trotzdem trat sie zurück und ging ins Wohnzimmer, wo hinter der Bar eine Kühlbox stand. »Mach’s kurz, Ben. Ich habe noch nichts gegessen.«
»Ich auch nicht.« Ben nahm die Flasche entgegen, die Willa ihm reichte. »Aber auf eine Einladung zum Dinner darf ich wohl nicht hoffen.«
»Mir ist nicht nach Gesellschaft zumute.«
»Dir ist nie nach Gesellschaft zumute.« Ben hob die Flasche und trank einen Schluck. »Ich hab’ dich seit unserem Ausflug in die Berge nicht mehr zu Gesicht bekommen. Dachte, es interessiert dich, daß ich nichts Näheres herausgefunden habe, ich hab’ die Fährte verloren. Wer auch immer da oben sein Unwesen getrieben hat, er hat es verstanden, seine Spuren zu verwischen.«
Willa nahm sich auch ein Bier und ließ sich, da ihre Füße höllisch schmerzten, neben Ben auf das Sofa fallen. »Pickles meint, es wären mit Drogen vollgepumpte Jugendliche gewesen.«
»Und du?«
»Ich halte das
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