Der weite Himmel: Roman (German Edition)
verfügte über eine schier unendliche Geduld. Mit seinen Pferden ging er so liebevoll um wie eine Mutter mit ihrem Kind. Mit ihr übrigens auch. Wenn er ihre Hand sachte über das Bein eines Pferdes führte, um sie zu lehren, es auf Verletzungen hin abzutasten, drückte er nie zu fest zu. Er hatte ihr beigebracht, mit einem Striegel umzugehen, Hufe auszukratzen und Vitaminzusätze für trächtige Stuten zu mischen. Und als er sie einmal dabei ertappt hatte, wie sie einen
Jährling mit einem Apfel fütterte, hatte er ihr keine Strafpredigt gehalten, sondern nur nachsichtig gelächelt. Die Stunden, die sie mit ihm zusammenarbeitete, waren die schönsten ihres Lebens. Die neue Welt, die sich ihr eröffnete, gab ihr Hoffnung und Zuversicht für die Zukunft.
All das könnte nun ein Ende haben.
Ein Mann war ermordet worden.
Bei dem Gedanken an den Mord überlief sie ein Schauer. Eine hinterhältige Tat hatte das Leben eines Menschen ausgelöscht, und sie war erneut hilflos dem Sturm ausgesetzt, der dieser Tat folgen würde. Wieder einmal war ihr die Kontrolle über die Ereignisse entglitten.
Beschämt mußte sie feststellen, daß sie mehr an sich und an die Konsequenzen für ihre eigene Zukunft dachte als an das Schicksal des Mannes, der getötet worden war. Sie hatte ihn allerdings nicht persönlich gekannt. Bisher war Lily den Männern auf der Mercy Ranch so weit wie möglich aus dem Weg gegangen. Der Tote war aber ein Teil ihrer neuen Welt gewesen, und sein Los hätte für sie an erster Stelle stehen müssen.
»Himmel, was für ein Durcheinander!«
Lily zuckte zusammen, als Tess in die Küche stürmte, und vor Schreck zerdrückte sie fest das Geschirrtuch, das sie immer noch in der Hand hielt. »Ich habe frischen Kaffee gemacht. Sind sie alle noch da?«
»Will spricht immer noch mit den Cops, wenn du das wissen wolltest.« Tess marschierte schnurstracks zum Herd und rümpfte die Nase, als sie an der Kaffeekanne schnupperte. »Ich bin ihnen vorsichtshalber aus dem Weg gegangen, daher weiß ich nicht genau, was eigentlich los ist.« Sie ging zur Speisekammer, riß die Tür auf und knallte sie ungeduldig wieder zu. »Gibt es in diesem Haus eigentlich nichts Stärkeres als Kaffee?
Lily zerrte an dem Geschirrtuch in ihren Händen. »Ich glaube, es ist noch Wein da, aber deswegen möchte ich Willa jetzt nicht stören.«
Tess verdrehte lediglich die Augen und öffnete den Kühlschrank. »Diese akzeptable, wenn auch nicht erstklassige Flasche
Chardonnay gehört uns ebensogut wie ihr.« Ohne Zögern nahm sie den Wein heraus. »Wo ist der Korkenzieher?«
»Ich hab’ ihn vorhin noch gesehen.« Lily zwang sich, das Tuch wegzuhängen. Sie hatte die Arbeitsflächen bereits zweimal gewischt. Sie entnahm einer Schublade den Korkenzieher und reichte ihn Tess. »Ich, äh, ich habe Suppe gekocht.« Verlegen deutete sie auf den Herd, auf dem ein Topf stand. »Bess hat immer noch Fieber, aber sie konnte trotzdem einen Teller davon essen. Ich denke – ich hoffe, daß es ihr morgen wieder bessergeht.«
»Hmm.« Tess hatte Weingläser gefunden und schenkte sie nun voll. »Setz dich, Lily. Wir sollten mal miteinander reden.«
»Vielleicht sollte ich den Leuten etwas Kaffee nach draußen bringen.«
»Setz dich bitte.« Tess rutschte auf die Holzbank in der Frühstücksecke und wartete.
»Na gut, wenn du meinst.« Lily nahm ihr am Tisch gegenüber Platz und faltete die Hände im Schoß.
Tess schob ihr eines der Weingläser zu. »Ich bin zwar der Meinung, daß wir im Begriff stehen, das Abenteuer unseres Lebens zu erleben, aber mir erscheint der Zeitpunkt schlecht gewählt.« Sie holte eine einzelne Zigarette aus der Tasche, die aus ihrem sorgfältig gehüteten Notfallpäckchen stammte, und drehte sie einen Moment lang zwischen den Fingern, bevor sie nach der Streichholzschachtel griff. »Spaß beiseite, wir sind da in eine ziemlich scheußliche Sache hineingeschlittert.«
»Da hast du recht.« Automatisch sprang Lily auf, holte einen Aschenbecher und brachte ihn Tess. »Der arme Mann. Ich weiß zwar nicht, um wen genau es sich handelt, aber …«
»Der Kahlkopf mit dem riesigen Schnurrbart und der noch riesigeren Wampe«, informierte Tess sie und zündete sich ihre Zigarette an.
»Oh.« Nun, da sie wußte, um wen es sich handelte, wäre Lily vor Scham über ihren Mangel an Mitgefühl am liebsten im Erdboden versunken. »Ich glaube, ich habe ihn einmal gesehen. Er wurde erstochen, oder nicht?«
»Ich fürchte, ihm ist noch
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