Der weite Himmel: Roman (German Edition)
weit Schlimmeres zugestoßen, aber ich kenne die Einzelheiten nicht. Ich weiß nur, daß Will ihn auf einer dieser Straßen, die kreuz und quer über die Ranch verlaufen, gefunden hat.«
»Das muß ja schrecklich für sie gewesen sein.«
»Allerdings.« Tess schnitt eine Grimasse und griff nach ihrem Weinglas. Sie hatte zwar für ihre jüngste Halbschwester nicht allzuviel übrig, doch diese Erfahrung hätte sie selbst ihrem ärgsten Feind nicht gewünscht. »Die Menschen in Montana sind ein zähes Völkchen. Sie wird schon damit fertig werden. Apropos …« Sie nippte vorsichtig an ihrem Glas, um dann festzustellen, daß der Wein doch nicht so minderwertig war, wie sie zuerst angenommen hatte. »Wie steht’s denn mit dir? Bleibst du hier oder gehst du?«
Auch Lily nahm ihr Glas, obwohl sie keinen sonderlichen Appetit auf Wein hatte, aber sie wollte ihre rastlosen Hände beschäftigen. »Ich wüßte gar nicht, wo ich hingehen sollte. Aber ich nehme an, du kehrst nach Kalifornien zurück.«
»Ich habe daran gedacht, ja.« Tess lehnte sich zurück und fixierte die Frau, die ihr da mit niedergeschlagenen Augen gegenübersaß und die Hände nicht ruhig halten konnte. Sie war sicher gewesen, daß das scheue Rehlein bereits einen Flug gebucht hatte, um so schnell wie möglich von der Ranch wegzukommen. »Aber ich sehe die Dinge so: In L. A. werden jeden Tag Menschen umgebracht. Jugendliche schlagen sich gegenseitig krankenhausreif, nur weil Mitglieder von rivalisierenden Banden ihre Graffiti in fremden Territorien hinterlassen. Drogensüchtige morden für einen Schuß Heroin. Stündlich gibt es Schießereien, Messerstechereien, Vergewaltigungen und vieles mehr.« Tess lächelte. »Gott, ich liebe diese Stadt!«
Als sie Lilys entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte, warf sie den Kopf zurück und begann schallend zu lachen. »Tut mir leid«, stieß sie nach einem Moment hervor, »ich wollte damit eigentlich nur sagen, daß wir, so schlimm es auch sein mag, hier nur einen einzigen Mord hatten. Verglichen mit dem, was ich gewöhnt bin, reicht der nicht aus, um mich von
hier zu vertreiben und mir das entgehen zu lassen, was mir rechtmäßig zusteht.«
Lily nippte an ihrem Wein und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. »Du bleibst also hier? Bist du dir da ganz sicher?«
»Ja, ich bleibe hier. Nichts ändert sich.«
»Ich dachte schon …« Lily schloß die Augen. Eine Welle der Erleichterung, gemischt mit nagenden Schuldgefühlen, überflutete sie. »Ich fürchtete schon, du würdest nach Hause zurückkehren, und ich müßte die Ranch dann auch verlassen.«
Sie öffnete die Augen wieder, sanfte, ruhige blaue Augen mit einem Hauch von Grau darin. »Es ist furchtbar. Da wurde der arme Mann so grausam ermordet, und ich konnte nur an die Folgen denken, die sein Tod für mich haben könnte.«
»Eine nur allzu menschliche Reaktion. Schließlich kanntest du ihn ja gar nicht. Hey.« Da Lily etwas an sich hatte, was Tess rührte, griff sie nach der Hand ihrer Schwester. »Quäl dich doch nicht mit solchen Gedanken herum. Für uns alle steht eine Menge auf dem Spiel, da ist es doch wohl logisch, daß wir zuerst darüber nachdenken, wie wir unser Eigentum schützen.«
Lily schaute auf ihre ineinander verschlungenen Hände und bewunderte die ihrer Schwester. So gepflegt, so voll beneidenswerter Kraft. Sie hob den Blick und sah Tess an. »Ich habe nichts getan, um einen Anteil an dieser Ranch zu verdienen. Ebensowenig wie du.«
Tess nickte nur, zog ihre Hand zurück und hob erneut ihr Glas. »Und ich habe es nicht verdient, daß mein eigener Vater meine Existenz einfach ignorierte. Ebensowenig wie du.«
In diesem Augenblick betrat Willa die Küche und blieb abrupt stehen, als sie die beiden Frauen am Tisch sitzen sah. Ihr Gesicht war immer noch sehr blaß, und ihre Bewegungen wirkten hölzern. Nach all den Fragen, die auf sie niedergeprasselt waren, und nachdem sie wieder und wieder hatte berichten müssen, wie sie die Leiche gefunden hatte, war sie mehr als froh, die Polizisten endlich los zu sein.
»Sieh mal einer an.« Sie schob die Hände in die Hosentaschen,
als sie näher kam, da sie immer noch zitterten. »Ich dachte, ihr zwei wärt längst beim Packen, anstatt hier rumzusitzen und ein Schwätzchen zu halten.«
»Genau darüber haben wir gerade gesprochen.« Tess zog die Brauen hoch, enthielt sich aber jeglichen Kommentars, als Willa ohne Umstände nach ihrem Weinglas griff und trank. »Wir gehen nirgendwo
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