Der weite Himmel: Roman (German Edition)
deinetwegen hier.« Auf ihre unwillige Reaktion ging er gar nicht ein. »Deinetwegen«, wiederholte er, »und wegen der Ranch. Außerdem kann man ja nie wissen.« Er hob ihren Kopf an und küßte sie. »Ich mache dir einen Vorschlag: Ich fahre bei Nate vorbei und überzeuge mich davon, daß sie gut angekommen ist.«
»Niemand hat dich gebeten, meine Probleme für mich zu lösen.«
»Das stimmt.« Ben schob sie behutsam beiseite und stand auf. »Aber vielleicht wirst du mich eines Tages einmal um etwas bitten, Willa. Vielleicht wirst du ja deinen Stolz einmal überwinden. Aber bis es soweit ist, tue ich das, was ich für richtig halte. Geh zu Bett«, sagte er dann, »du brauchst dringend Schlaf. Ich kümmere mich um deine Schwester.«
Mit gerunzelter Stirn sah sie ihm nach, als er das Zimmer verließ, und fragte sich, auf welche Bitte ihrerseits er wohl warten mochte.
Tess gelangte wohlbehalten an ihr Ziel. Für sie war die Fahrt durch die dunkle, tief verschneite Landschaft das reinste Abenteuer. Sie hatte das Radio auf volle Lautstärke gedreht und wie durch ein Wunder einen Sender gefunden, der ausschließlich Rockmusik brachte, so daß sie fröhlich mit Rod Stewart im Duett sang, als sie sich Nates hell erleuchteter Ranch näherte.
Alles wirkte geradezu mustergültig gepflegt, stellte sie fest. Der Weg zum Haus war geräumt, die Nebengebäude und Koppelzäune offensichtlich frisch gestrichen worden.
Das Scheinwerferlicht schien einige der Pferde aufgeschreckt zu haben, da drei von ihnen aus dem Stall in den Korral getrottet kamen und das vorbeifahrende Auto neugierig betrachteten.
Was für ein hübsches Bild sie boten, dachte Tess entzückt. Ihre Schweife und Mähnen flatterten im Wind, als sie anmutig näher tänzelten. Eines der Tiere streckte den Kopf über den Zaun, so daß Tess unwillkürlich Gas wegnahm, um den rassigen Körper und das schimmernde Fell zu bewundern.
Langsam fuhr sie weiter, folgte der leichten Biegung der Straße, die sie zum Haupthaus führte. Auch dieses sah schon von außen sauber und ordentlich aus. Alles war eher schlicht gehalten, dachte sie beim Anblick des kastenförmigen, zweistöckigen Gebäudes mit der großzügigen überdachten Veranda und den weißen Fensterläden, die sich von dem dunklen Holz abhoben. Aus zwei Schornsteinen stieg Rauch auf. An diesem Haus fand sich kein überflüssiger Putz und Zierrat – ebensowenig wie an dem Mann, der es bewohnte.
Ein Lächeln lag auf Tess’ Gesicht, als sie nach ihrer Tasche und dem kleinen Päckchen griff und aus dem Jeep kletterte. Und es gelang ihr gerade noch, einen entsetzten Aufschrei zu unterdrücken, als ihr Blick auf den Rotluchs fiel.
Sie stolperte drei Schritte zurück und prallte hart gegen den Jeep. Der Luchs starrte sie aus blicklosen Augen unbeteiligt an. Er war zweifelsfrei tot; irgend jemand hatte ihn ohne große Umstände über das Verandageländer geworfen, aber er hatte ihr einen furchtbaren Schreck eingejagt.
Die tödlich scharfen Zähne und Klauen brachten ihr auf eine unangenehme Weise zu Bewußtsein, was mit einer Frau geschehen würde, die das Pech hatte, auf eine lebende Raubkatze zu stoßen. Das Tier war nicht verstümmelt worden, und das Fehlen von Blutspuren beruhigte sie ein wenig. Der Luchs war einfach nur wie ein zum Ausklopfen bestimmter Teppich über das Geländer gehängt worden. Schaudernd machte sie einen großen Bogen um ihn und stieg die Stufen zur Eingangstür empor.
Welcher vernünftig denkende Mensch würde wohl sein Verandageländer mit dem Kadaver einer Raubkatze dekorieren? fragte sie sich und blickte nervös kichernd auf das Geschenk in ihrer Hand. Und dann Keats lesen?
Himmel, was für ein verrücktes Land!
Im selben Moment, als sie an die Tür klopfen wollte, öffnete sich diese wie von Geisterhand. In ihrer augenblicklichen Gemütsverfassung war Tess noch dankbar dafür, daß sie lediglich heftig zusammengezuckt war, aber glücklicherweise nicht laut aufgeschrien hatte.
Die kleine, dunkelhäutige Frau, die auf der Schwelle stand, musterte sie eindringlich. Ihre in einen dicken Mantel und mehrere Schals gehüllte Gestalt wirkte ebenso breit wie hoch. Das schwarze Haar wurde von einem weiteren Schal größtenteils bedeckt, doch Tess konnte erkennen, daß es von silbernen Strähnen durchzogen war.
»Señorita?« fragte sie mit einer wunderbaren Altstimme. »Kann ich Ihnen helfen?«
Diese Stimme, die so gar nicht zu dem faltenreichen Gesicht passen wollte, faszinierte
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