Der weite Himmel: Roman (German Edition)
sich dagegen anders. Ich werde aus ihr einfach nicht schlau. Ist die Frau nun furchtlos oder einfach nur leichtsinnig?
Jeden Tag fährt oder reitet sie hinaus, und das auch noch meistens alleine. Sie schuftet bis zum Umfallen, geht jeden Abend hinüber in die Männerquartiere, um mit ihren Leuten zu sprechen, und wenn sie sich im Haus aufhält, vergräbt sie sich fast immer im Büro und steckt die Nase in die Bücher, die Aufschluß über die Ranch geben.
Ich fürchte, ich beginne sie zu bewundern, und ich weiß nicht so recht, ob ich davon begeistert sein soll. Ich habe ihr einen Kaschmirpullover gekauft, warum, weiß ich selber nicht. Sie trägt nie etwas anderes außer Flanell. Aber der Pulli ist leuchtend rot, ganz weich und sehr weiblich. Vermutlich wird sie ihn über ihre lange Unterwäsche ziehen und dann darin Rinder kastrieren, aber was soll’s.
Für Adam, den ich wie einen großen Bruder mag, habe ich ein kleines Aquarell gefunden. Es zeigt ein Bergmotiv, und als ich es sah, mußte ich sofort an ihn denken.
Nach langem inneren Kampf habe ich mich entschlossen, auch Ben und Nate mit einer Kleinigkeit zu bedenken, schließlich verbringen ja beide ziemlich viel Zeit hier. Für Ben habe ich eine Videokassette, Red River , ein Gag, den er hoffentlich nicht in den falschen Hals kriegt.
Was Nate angeht, so habe ich nach einigen vorsichtig eingezogenen Erkundigungen erfahren, daß er eine Schwäche für Lyrik hat. Er bekommt einen Gedichtband von Keats. Mal sehen, wie ihm das gefällt.
Bei all den Vorbereitungen, den Düften aus der Küche und der festlichen Dekoration komme ich selbst in Weihnachtsstimmung. Gerade habe ich schätzungsweise eine Tonne Geschenke an Mom abgeschickt. Bei ihr gibt nicht die Qualität, sondern die Quantität den Ausschlag, und ich sehe sie schon vor mir, wie sie stundenlang genüßlich Pakete aufreißt.
Komisch, aber ich vermisse sie!
Trotz all des Weihnachtstrubels fühle ich mich irgendwie kribbelig. Liegt vermutlich daran, daß ich so viele Stunden im Haus eingesperrt bin. Ich nutze die zusätzliche Zeit – im Winter mangelt es hier an allem, nur nicht an Zeit, da es um fünf Uhr nachmittags bereits stockduster ist –, um ein Konzept für ein Buch auszuarbeiten, nur so aus Spaß. Ich muß mir ja die ewiglangen Nächte vertreiben.
Ach so, was die langen Nächte angeht … da alles wieder ganz ruhig zu sein scheint, werde ich mir ein Auto – pardon, einen Jeep ausborgen und Nate besuchen, um ihm mein Geschenk persönlich zu überreichen. Ham hat mir den Weg beschrieben. Seit Wochen warte ich darauf, daß er den ersten Schritt macht und mich in sein Haus einlädt, aber vermutlich muß ich die Sache in die Hand nehmen.
Ich weiß beim besten Willen noch nicht, wie ich ihn ins Bett bekommen soll. Also habe ich beschlossen, die Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen. Doch bei dem Tempo, mit dem er vorgeht, kann es Frühling werden, bis es soweit ist. Daher ist Initiative gefragt.
Was soll’s!
»Gehst du aus?« erkundigte sich Willa, als Tess die Treppe herunterkam.
»In der Tat.« Tess wandte den Kopf und registrierte Willas übliche Kluft, Jeans und Flanellhemd. »Du nicht?«
»Bin gerade erst reingekommen. Es soll noch Leute geben, die keine Zeit haben, stundenlang vor dem Spiegel zu stehen.« Ihre Brauen zogen sich zusammen. »Du trägst ja ein Kleid.«
»Ach wirklich?« Mit gespieltem Erstaunen blickte Tess an ihrem schlichten, figurbetonten blauen Wollkleid herunter, das ihr bis knapp zu den Knien reichte. »Wie konnte das bloß passieren.« Leise kichernd kam sie unten an und ging zum Schrank, um ihren Mantel herauszunehmen. »Ich muß ein Weihnachtsgeschenk abliefern. Du erinnerst dich doch, daß wir Weihnachten haben, oder nicht? Sogar ein Mensch, der so beschäftigt ist wie du, muß von diesem Fest gehört haben.«
»Da war doch so ein Gerücht?« Nachdenklich betrachtete Willa ihr Gegenüber. Aufreizendes Kleid, hohe Absätze, verführerisches Parfüm, stellte sie fest, und ihre Augen wurden schmal. »Für wen ist denn das Geschenk?«
»Ich wollte bei Nate vorbeischauen.« Tess warf sich ihren Mantel über. »Hoffentlich hat er was zu trinken da.«
»Das hätte ich mir denken können« brummte Willa. »Du wirst dir den Hals brechen, wenn du mit diesen Stöckelschuhen nach draußen gehst.«
»Ich habe einen hervorragenden Gleichgewichtssinn.« Mit einem lässigen Winken schwebte Tess zur Tür. »Du brauchst nicht auf mich zu warten –
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