Der weite Weg nach Hause
den Äschen auf die Schultern, und dann sahen sie, dass Prokurator Rivas einen Fisch am Haken hatte und ihn an Land zu ziehen versuchte. Seine Angel bog sich in beängstigender Weise, als würde sie jeden Moment zurückschnellen, und er schnaufte heftig bei dem Versuch, den Fisch hereinzuholen, der ihn immer weiter ins Wasser zog. Er watete bis zur Hüfte hinein. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Dann ließ er die Angel los und griff mit der Hand in den Fluss und zog Kopf und Schultern von Marina heraus.
Marina war nackt, und ihr Körper war grau und glitschig wie die toten Äschen. Ihr Haar trieb auf der schimmernden Wasseroberfläche. Prokurator Rivas hob den glitschigen, graublauen Körper so an, dass Marinas Kopf an seiner Schulter ruhte und ihre Brüste an seiner breiten Brust in dem Ölzeug lagen. Er küsste ihre Stirn, rief ihren Namen: »Marina. Marina.« Aber sie war ein totes Gewicht in seinen Armen.
»Das ist doch lächerlich«, sagte Rudi. »Wieso sieht er nicht, dass sie schon lange tot ist? Was für ein Idiot. Wieso sieht der das nicht, verdammte Scheiße?«
Lev erwachte, und im Zimmer war es dunkel. Eine Stimme sagte seinen Namen. Er drehte den Kopf, im Geiste noch bei dem Albtraum, und erkannte Christy, der sich über ihn beugte.
»Lev«, sagte er. »Bin gerade gekommen, Kumpel. Musst du nicht längst auf der Arbeit sein?«
Lev richtete sich mühsam auf und stieß sich den Kopf am oberen Bett. »Wie spät ist es? Wie spät ist es?«
»Na ja«, sagte Christy, »es ist nach neun.«
Neun? Wie konnte es neun sein? Wie um Himmels willen konnte es neun Uhr sein?
»Neun Uhr abends?«
»Ja. Oder hast du heute Abend vielleicht frei?«
Lev knipste das Licht an, rieb sich den Kopf. »O Gott ...«, sagte er. »Hat GK angerufen?«
»Hab noch nicht den Anrufbeantworter abgehört. Soll ich?«
Christy ging ins Wohnzimmer. Lev griff nach seinem Handy und starrte auf das Display. Keine Nachricht über einen unbeantworteten Anruf. Er wählte die 901 und erfuhr, er habe eine Nachricht. Bevor er abstellen konnte, hörte er Sophies Stimme − von vor Wochen −, die sagte: »He, Süßer. Hoffentlich kannst du dich noch bewegen. Sind alle Jungs in deinem Land so ungezogen wie du?«
Lev löschte die Nachricht, knallte sein Handy hin, zog sich saubere Sachen an.
Neun Uhr.
Er war fünf Stunden zu spät! Jetzt war Hochbetrieb bei den Bestellungen. Aber in der Küche ging wahrscheinlich alles sehr langsam, entsetzlich langsam, weil die Köche ihr Gemüse selbst vorbereiten mussten, und GK würde wahnsinnig werden ...
»Keine Nachrichten«, sagte Christy an der Tür. »Nur eine von dir, dass du anscheinend ein Problem hast. Was war denn ...«
»Keine Zeit, Christy. Erzähle ich später. Habe mein Portemonnaie verloren. Kannst du mir etwas Geld für den Bus leihen?«
»Klar«, sagte Christy und wühlte in seiner Hosentasche. »Hab jede Menge Bargeld. War draußen in Palmers Green, um einen verdammten Boiler zu reparieren. Hat den ganzen Tag gedauert, aber hat sich gelohnt. Eine Inderin. Trug einen Sari mit allem Drum und Dran. Zum Verrücktwerden schön, wie ich fand. Und sie roch so herrlich − fast wie Brotsoße, du weißt schon. Ihr Boiler hätte schon 1991 in den Müll gehört, aber ich hab ihn wieder hingekriegt. Jasmina hieß sie. Jas-miena . Sie war so dankbar, dass sie mich mit Geld behängt hat wie eine Braut.«
»Schön, Christy. Schön.«
» Jas-miena . Jetzt kann ich den Spiderwoman-Anzug kaufen, den Frankie sich so wünscht.«
Lev war um zehn vor zehn im GK Ashe.
Er betrat die Küche, während er sich die weiße Schürze umband. GK wirbelte herum und starrte ihn an. In der Hand hielt er einen Schneebesen, von dem jetzt Schaum aus geschlagenem Eiweiß auf den Boden tropfte.
»Chef«, stammelte Lev, »... es tut mir so leid. Ich bin eingeschlafen. Bitte vergeben Sie mir. Wird nie wieder geschehen ...«
Lev sah, wie GK zu Sophie schaute, die gerade irgendetwas Kompliziertes flambierte. Sie blickte weder zu Lev noch zu GK.
»Was geht hier verdammt noch mal vor?«, sagte GK.
»Mein Fehler, Chef«, sagte Lev. »Ich verspreche Ihnen, wird niemals ...«
GK sah auf seine Uhr. Noch mehr Eischnee tropfte vom Schneebesen. Dann sagte er: »Es ist fast zehn Uhr. Glaubst du etwa, wir haben hier sechs Stunden rumgesessen und gewartet, dass du einen Kürbis entkernst? Du kannst die Küchenuniform ausziehen. Und was mich betrifft, nach Hause gehen. Wir haben deine Arbeit für dich gemacht.«
Lev
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