Der weite Weg nach Hause
sie. Aber jetzt sind alle hinter mir her, ich soll ihre Küche neu machen. In dieser Straße bin ich beliebter als irgendwo sonst auf der Welt.«
Kaum waren sie ausgestiegen, öffnete sich auch schon Jasminas Haustür, und sie trat mit ausgebreiteten Armen in die Abendsonne heraus. Lev sah, dass sie eine pummelige Frau war, das Oberteil ihres Saris saß fast zu knapp. Hinter den dicken Gläsern ihrer Brille wirkten ihre Augen riesig, aber in ihnen wartete ein Lächeln von einiger Schönheit. Bei ihrem Anblick wurde Christy über und über rot. Sie umarmte ihn, und Lev sah, wie er unter oder hinter ihr fast verschwand, als ein Windstoß die weiten Falten ihres Saris um seine schmalen Schultern wehte.
Er kam wieder zum Vorschein und stellte Lev vor.
»Herzlich willkommen«, sagte sie zu Lev. »Kommen Sie doch herein. Mein Gott, so schönes Wetter. Kaum zu glauben. Kommen Sie, kommen Sie ...«
Der Aufgang zu ihrem Haus bestand aus einem granitähnlichen Material mit kleinen Glimmerstücken, die im weichen Licht funkelten. Üppige Hortensien unter dem Bogenfenster standen kurz vor ihrer blauen Blüte. Die Haustür war aus leuchtendweißem Kunststoff und hatte einen Messingtürklopfer in Gestalt eines Löwenkopfs.
Über die Auslegeware im Flur führte Jasmina sie in ihr Wohnzimmer, wo Christy sich mit der Frage zu Lev umdrehte: »Hast du jemals so etwas gesehen?«
Der kleine Raum war ringsum bis in Augenhöhe mit Glasregalen ausgestattet. Diese Regale wurden von oben mit Halogenpunktstrahlern beleuchtet, und dekoriert waren sie mit einer riesigen Sammlung farbiger Flaschen, Krüge, Karaffen, Vasenund Arzneifläschchen aus Glas. Unter den hellen Lampen und im unruhigen Licht der letzten Sonnenstrahlen, die durch das zweiflügelige Fenster hereinfielen, schien das Glas in einer Art ewigem Regenbogenswing zu zittern. Rubinrot schickte schimmernden Glanz zum benachbarten verwirrenden Rosa. Um die Ecke herum dämpften Purpur, Indigoblau, Türkisblau und Aquamarin den Tanz. Drehte man sich nach links, leuchtete die ganze Wand flaschengrün, lindgrün, silbern und limonengelb. Wandte man sich zum westlichen Fenster, ertrank man förmlich in honigfarbenen Bernstein- und allen möglichen Gelbschattierungen ...
»Mein Gott«, sagte Lev. »Phantastisch ...«
Jasmina zupfte und zerrte an ihrem Sari, der ein wenig verrutscht war. Als er wieder korrekt und zu ihrer Zufriedenheit saß, lächelte sie ihr alles veränderndes Lächeln und sagte zu Lev: »Ich nenne es mein ›Einsamkeitszimmer‹. So etwas machen Frauen, wenn sie lange Zeit allein sind: Sie sammeln Glas. Ich habe mit wenigen Stücken begonnen und dann irgendwie einfach weitergemacht.«
»Es ist aber wunderschön, Jas«, sagte Christy. »Die Jahre waren nicht umsonst.«
»Nein«, sagte Jasmina rasch, und ihr Lächeln verschwand. Aber Christy ging lieber nicht darauf ein.
»Hast du gesehen, Lev«, sagte er, »wie hübsch das alles arrangiert ist? Mit den hellen kleinen Lampen und so. Und wie die durchsichtigen Regale alles reflektieren? Ich finde, das ist ein Kunstwerk.«
»Ja«, sagte Lev. »Das würde ich sagen. Ein Kunstwerk.«
»Nun«, sagte Jasmina. »Kann sein. Aber alles muss abgestaubt werden. Und einmal im Monat nehme ich jedes Stück herunter und wasche es und wische die Regale von oben und von unten. Es ist Wahnsinn.«
»Ich finde es toll«, sagte Christy. »Ich finde es total und absolut toll. Hab Lev schon davon erzählt, hab ich doch, Kumpel,oder? Hab dir doch von dem Zimmer der bunten Gläser erzählt.«
»Ja, das hast du. Und ich habe noch nie so etwas gesehen.«
»Na ja«, sagte Jasmina, »in der Sonne sieht es vielleicht ganz hübsch aus. Aber jetzt nehmt bitte Platz. Ich hole uns etwas zum Knabbern.«
Christy und Lev setzten sich nicht, sondern blieben mitten im Raum stehen und starrten das Glas an, wobei sie, wie Besucher einer Ausstellung, ab und an den Standort änderten. Sie sagten nichts. Lev versuchte sich all die einzelnen Transaktionen vorzustellen, die zu einer Sammlung solch unvorstellbaren Ausmaßes geführt hatte. Ihm schien, man brauche wohl ein ganzes Leben dafür. Wie ungeheuer viel freie Zeit, wie ungeheuer viel überzähliges Geld mochte wohl in den Flaschen und Phiolen verschwunden sein! Er dachte an den einen blauen Glaskrug, den er auf dem Baryner Markt für Marina gekauft und der auf dem Tisch in ihrem Schlafzimmer gestanden hatte − und noch immer stand. Dachte daran, wie Marina ihn mit ihren langgliedrigen Händen
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