Der weite Weg nach Hause
das?«
»Ich kenne seinen Namen nicht«, sagte Frankie und schaute Lev an.
»Doch, den kennst du, ich habe ihn dir gesagt, meine Süße. Sein Name ist Lev. Das beginnt aber nicht mit ›f‹. Und meiner auch nicht, und Sophies auch nicht, also ...?«
Sie rutschte unruhig auf ihrem Platz herum. Sie drückte den rosa Rucksack an sich wie einen Schild. Nach einer Weile sagte sie: »Frankie.«
»Na, siehst du!«, sagte Christy. »›F‹ für Frankie. Einfach, nicht? War doch klar, oder? Klar wie Kloßbrühe. Und jetzt setz dich gerade hin. Du musst dich einfach nur konzentrieren.«
Frankie ließ sich hochziehen, dann drehte sie sich weg und hielt das Gesicht wieder an die Fensterscheibe. Sie sagte, sie wolle nicht mehr »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielen. Sie sagte, sie werde jetzt die Pferde auf den Feldern zählen.
Christy rieb sich die Augen. Seit Angelas Besuch waren die Ekzeme wieder da und bis zu den Augenlidern vorgerückt, die entzündet und verkrustet waren. Er sagte ganz leise zu Lev: »Sie kümmern sich nicht um ihre Erziehung. Das merke ich schon jetzt.«
Lev war nicht nach Reden zumute. Wie Frankie wollte er die Landschaft hinter dem Zugfenster betrachten. Während dieHecken sich wie Bänder vor ihm entrollten und zwischendurch einsame Höfe auftauchten und wieder verschwanden, wollte er daran zurückdenken, wie dieser Teil Englands ihm von dem Bus aus erschienen war, der ihn an jenem frühen Ankunftsmorgen von Harwich nach London gebracht hatte, mit Lydia an seiner Seite. Er lächelte bei dem Gedanken an Lydias Kommentare, mit denen sie ihn, sobald die Sonne aufging, nicht etwa auf den schimmernden Weizen aufmerksam gemacht hatte und auch nicht auf die gelegentlichen dunklen Schatten der in vollem Laub stehenden Stieleichen oder die vielen steinernen Kirchen, sondern auf die Schilder, die immer wieder ins Blickfeld gerieten: » Little Chef «, sagte sie dann, »und schauen Sie, Lev. Schon wieder Little Chef ! So viele kleine Chefs.« Sie murmelte leise neue Wörter, wie ein Schauspieler, der seinen Text übt. » Royal Mail Depot ... Kendon Packaging ... Multiyork ... Atlas Aggregates ... Notcutts Garden Centre ... Pick Your Own ...«
Lev wusste noch, dass er »Was ist Pick Your Own ?« gefragt hatte.
»Oh«, sagte Lydia. »Das weiß ich nicht. Ich glaube, es ist ein ziemlich rätselhaftes Schild, weil es grammatisch irgendwie unvollständig ist.« Sie dachte einen Augenblick nach, seufzte dann und sagte: »Tut mir leid, Lev, Pick Your Own kann ich noch nicht übersetzen. Vielleicht ist meine Hoffnung auf eine Übersetzerstelle ja unbegründet.«
Das schien lange her zu sein.
Jener Lev schien ein anderer Mann gewesen zu sein. Und er musste daran denken, wie merkwürdig es war, dass die Person, die Rudi kannte, die Person, an die Maya sich erinnerte, jener andere Lev war, jener alte, sorgenvolle, ängstliche Mann. Er hätte sich gern bei ihnen entschuldigt. Er hätte ihnen gern versichert, dass er jetzt ein freundlicherer Mensch war.
»So«, sagte Christy, um das Schweigen zu brechen. »Zeit für Sandwiches.«Sie erreichten Silverstrand gegen Mittag. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, es war fast windstill, und sie liefen sofort hinunter ans Meer. Die Flut kam gemächlich über einen breiten, beigefarbenen Strand herangerollt, schob sich über den gekräuselten Sand, brach sich in flachen kleinen Wellen, die silbrigweiß unter dem blauen Himmelsgewölbe schimmerten.
»Mensch!«, sagte Christy und grinste bei dem herrlichen Anblick. »Ich finde, so ist es doch schön. Sieh dir das an, Frankie. Ist das nicht ein klitzekleines bisschen okay?«
Sie hatte ihren Rucksack abgesetzt. Zum ersten Mal an diesem Tag leuchteten ihre versteinerten Augen. Sie machte kleine hüpfende, hoppelnde Bewegungen im Sand.
»Riecht mal den Ozon!«, sagte Christy. »Oder ist das der Tang oder sind es die Muscheln oder was? Das weiß ich nie. An der Westküste von Irland haben sie immer ›Riecht mal den Ozon‹ gesagt.«
»Es ist auf jeden Fall Ozon«, sagte Sophie. »Und wir sind mittendrin. Atme, Lev. Jeder Atemzug vernichtet vierzig Kippen.«
Plötzlich und ohne Vorwarnung ergriff sie Levs Hand und rannte mit ihm zum Wasser, drehte sich um und schubste ihn ausgelassen vorwärts, so dass die Wellen fast seine Füße erreichten. Er leistete Widerstand und zog sie an sich. Am liebsten hätte er sie hochgehoben und wäre mit ihr ins Meer gegangen. Er fühlte sich stark und wild, als könnte er
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