Der Weltensammler: Roman (German Edition)
volle Erstattung der Anzahlung zu verlassen. Das war ein Angebot, das keiner annehmen wollte. Das nächste Boot wäre genauso voll, das übernächste auch. Als kurz darauf die Segel gehißt wurden, sprangen alle auf, als folgten sie einer stillschweigend abgesprochenen Choreographie. Sie rezitierten die erste Sure, die Fatihah, ihre Hände gen Himmel gerichtet, als wollten sie einen Segen auffangen, der vom Himmel auf das Schiff herabfiel. Nach dem Amen strichen sie den Segen über ihr Gesicht. Und ein alter Mann richtete seine Stimme zu einem weiteren Gebet auf. Mache uns untertan jedes Meer, das Deines ist auf Erden und im Himmel, in der Welt der Sinne und in der unsichtbaren Welt, das Meer dieses Lebens und das Meer des kommenden Lebens. Mache uns all das untertan, Du, in dessen Hand die Macht über alles liegt.
Der Kapitän navigierte, wie Sheikh Abdullah bald nach ihrem Aufbruch erkannte, einzig und allein, indem er die Küste nicht aus den Augen ließ. Es war ein langsames Abtasten. Vor Jahrhunderten wären sie um einiges schneller vorangekommen, dachte Sheikh Abdullah, der Kapitän wäre mit den nötigen Instrumenten ausgestattet gewesen, mit Kenntnis der Tiefen, er hätte seinen Steuermann Tag und Nacht anweisen können. Die Küste von Sinai war eine massive Wand, bemerkenswert einförmig, in den Tagen darauf gekrönt von den zinnenartigen Höhen des Jebel Serbal und den gerundeten Silhouetten des Jebel Musa, des Berges Sinai. Sie ankerten, bevor die Sonne hinter Afrika unterging. Zum Abendessen teilten sie sich eine Rolle Stutenhaut, getrocknete Aprikosenpaste, die immerhin leichter zu kauen war als die trockenen Biskuits, so hart, als seien sie von den Felsen am Ufer abgeschlagen.
Sie sprachen sich gerade ab, wer nachts über die Gruppe wachensollte, als unten im Rumpf, nahe des Achterdecks, Unruhe aufkam. Helft ihm hoch, rief jemand. Wem? Dem alten Mann! Welchem alten Mann? Hier, hier ist er. Was soll er hier oben? Er ist ein Kass, er soll uns etwas erzählen. Saad lehnte sich nach vorne, packte einen gebrechlichen Alten unter den Achseln und hob ihn auf, als sei er aus Pergament. Der alte Mann setzte sich auf eine der Kisten und deutete nach unten. Mein Helfer. Bringt ihn auch hinauf. Saad streckte schon seine Arme aus, um auch den Begleiter des Erzählers heraufzuholen. Wozu brauchen Sie Hilfe? fragte Salih mißtrauisch. Soll ich das Geld etwa selber einsammeln? wies ihn der Alte entrüstet zurecht. Er sammelt Geld? Er soll unten sammeln, rief Salih aus. Bei so vielen Pilgern wird er reichlich Belohnung finden. Und Saad ließ den Helfer wieder fallen. Als der Alte zu erzählen begann, waren alle, die ihn sehen konnten, erstaunt über seine kräftige Stimme. Er sprach ein kurzes Gebet, während dessen sich das Schweigen wie schwarze Tinte von dem Achterdeck aus über das ganze Schiff ausbreitete.
Oh Bewahrer der Seelen in diesem Rumpf, oh Beschützer des Rumpfes in dieser unergründlichen See, behüte dieses Boot, das Silk al-Zahab heißt. Sagt, was wißt ihr über die Zeit? Sagt, was wißt ihr über das Alter? Zu Beginn unserer Zeit gab es schon all die Berge und Buchten, die wir gestern und heute und morgen sehen. Es gab das Steilufer, das Riff, die Sandbänke, die Klippen, es gab das Gold, das Blau und den Purpur, in den sich der erste der Könige gekleidet hat und mit dem das Paradies ausgelegt sein wird. Es gab Menschen, die Recht suchten, und Menschen, die Unrecht taten. Es gab ehrenhafte Führer und sündige Tyrannen. Es gab Musa, und es gab den Pharao. Ihr kennt alle die Geschichte von der Flucht von Musa und seinem Volk, von der Verfolgung durch die Armee des Pharaos, von dem Meer, das sich vor den Wahren teilte und über den Falschen zusammenschlug. Aber wißt ihr, daß sich die Geschichte hier abgespielt hat? Zwischen dem Berg auf dieser Seite und der Wüste auf jener Seite. In diesem Wasser, neben und unter unserem Schiff, hier, wo wir eine lange Nacht verbringen werden. Hier ist die Armee des Pharaos ertrunken in den Höllenfluten. Eine gewaltige Armee, hunderttausend Mann stark, mächtiger als die Armee des Kalifen.Kein einziger Soldat unter ihnen hat das andere Ufer erreicht, kein einziger unter ihnen ist je heimgekehrt. Sie alle wurden vom Meer gefangengenommen, und sie haben sich nie mehr befreien können. Wenn wir tief genug hinabblicken könnten, wir würden auf dem Grund die hunderttausend Krieger sehen. Sie marschieren, immer weiter, bis zum Ende unserer Zeit, Krieger in schwerem
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