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Der Weltensammler: Roman (German Edition)

Der Weltensammler: Roman (German Edition)

Titel: Der Weltensammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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gut wie vollendet. War es nicht an der Zeit, sich ein wenig Genugtuung zu gönnen? Hatte er Kundalini nicht zu einer wunderbaren Figur geformt? Sie mußte den Vergleich mit Shakuntala nicht scheuen, und er nicht mit … Nein. Das ging zu weit. Ihm war schwindlig. Er war solche Gedanken nicht gewohnt. Sie war betörend frisch, die Einsicht, was er geleistet hatte. Worüber mußte er sich noch klarwerden? Eigentlich nur über die Frage, wieso Kundalini dem Tempel übergeben wurde. Es muß sich um ein Versprechen gehandelt haben. Wann geben die Menschen solch maßlose Versprechen ab? Wenn sie sich ein Kind ersehnen. Ja, das war es, die einfachste, die eleganteste Lösung. Die Mutter von Kundalini war unfruchtbar, sie krallte sich an ihren Gebeten fest, und sie schwor, nicht einmal, nein, solche Schwüre werden tausendfach wiederholt, als sei Gott taub oder von schwachem Gedächtnis, wenn sie Kinder kriegen könnte, sie würde ihre erste Tochter Gott zur Braut geben. Der Gott, der ihre Gebete erhörte, erwies sich als bedingt großzügig. Er gab nur so viel, wie er später zurückerhalten würde. Er schenkte ihr ein einziges Kind, es war eine Tochter, und mit diesem Kind bezahlte die Mutter von Kundalini für das Geschenk ihres Kindes. Was für ein Gottesdienst! Was für ein Einfall! Ihm wurde noch schwindliger. Er war überaus zufrieden.
    – Alle fragen nach dir, wo du bist, wie es dir geht. Was soll ich ihnen sagen?
    – Hast du mich nicht verstanden?
    – Ich habe kein Gesicht mehr, den Nachbarn entgegenzutreten.
    – Schweig doch endlich.
    – Die ganze Zeit sitzt du hier, mit den Blättern und der Feder, wenn ein Gast uns besucht, wieso kommst du nie heraus.
    – Weil ich besseres zu tun habe.
    – Verflucht sei dein Schreiben. Du hast keine Zeit mehr für irgend etwas anderes. Du hast deine Familie gegen diese Buchstaben eingetauscht. Ist das die großartige Erfindung, die aus Männern Einsiedler macht, einsam inmitten von Menschen?
    – Du verstehst nicht, Eselin du. Immer mußte ich aufschreiben, was mir andere diktiert haben. Es waren immer trockene Briefe,trostlose Briefe. Bittgesuche, Eigentumsübertragungen. Ich formulierte, so geschickt ich konnte, manchmal schmückte ich die Schreiben ein wenig aus, aber stets blieb ich der Sklave fremder Absichten. Obwohl ich klüger war als diese Kunden, mußte ich ihren Blödsinn niederschreiben. Das ändert sich jetzt. Das hat sich schon geändert. Verstehst du nicht, wie wichtig das ist?
     
     
     
    48.
    SOHN DES SHIVA
     
    Upanitsche wartete, bis es fast zu spät war, bevor er seinem Shishia das Wichtigste beibrachte, was er einem Fremden beibringen konnte. Er wartete damit bis zur Nacht des Shiva, bis der Geist von Burton vor lauter Schlaflosigkeit zu einer Ellipse verbogen war. Er wartete, bis die Huldigung Gottes fast vorbei war. Sie waren zum Tempel zurückgekehrt, nachdem sie Shiva über drei Hügel getragen und um Spenden gebeten hatten, jedesmal, wenn sie den Palankin absetzten. Die Menge war sich in ihren Gefühlen nicht einig gewesen. Die Träger umklammerten resolut die Pfähle, die Jungen verwandelten ihre Hingabe in einen kreisenden Tanz, der Spendeneintreiber bediente sich aller Mittel, um die Geldbeutel zu lockern, sogar eines derben Humors. Er schwitzte wie ein Conférencier, der seine Aufgabe genoß, obwohl er überfordert war; die restlichen Gläubigen rotierten um die Trage in verdichteter Ekstase. Guruji war zum Schlaf bereit. In einem weißen Unterhemd und Pajama. Haben Sie schon einmal von Adavaita gehört, mein Shishia? So wie er es sagte, sah sich Burton einem Mithaiwallah gegenüber, der ihm eine neue Süßigkeit offerierte. Der Tonfall täuschte, das wußte er inzwischen, der Ernst würde auf Zungenspitzen folgen. Adavaita bedeutet ganz einfach ›ohne Zweites‹. Hören Sie mir zu, mein Shishia, und sagen Sie mir dann, ob Sie jemals einen strengeren Gedanken gehört haben. Laut Adavaita existiertnichts außer einer einzigen Realität, deren Name unerheblich ist – Gott, das Unendliche, das Absolute, Brahman, Atman, wie wir es auch immer nennen möchten. Diese Realität verfügt über kein einziges Attribut, das sie definieren könnte. Auf jeden Versuch, sie zu beschreiben, müssen wir antworten: Nein! Wir können sagen, was es nicht ist, aber nicht, was es ist. Alles, was wie Existenz erscheint, die Welt unseres Geistes und unserer Sinne, ist nichts anderes als das Absolute unter einer falschen Konzeption. Das einzige, das unter dieser

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