Der Wettlauf zum Suedpol
Scott festhielt. »Die Norweger sind uns zuvorgekommen und sind die Ersten am Pol! Eine furchtbare Enttäuschung! Aber nichts tut mir dabei so weh wie der Anblick meiner armen, treuen Gefährten! All die Mühsal, all die Entbehrungen, all die Qual – wofür?«
Abb 155
Die Niederlage ist besiegelt: Dies bezeugen die versteinerten Mienen von Oates, Bowers, Scott, Wilson und Edgar Evans vor dem Union Jack.
Die Briten waren genau dort entlanggekommen, wo Amundsen kurz vor Beginn seiner Rückreise zum Pol noch die schwarze Wegmarkierung angebracht hatte. Auch wenn es nicht so gedacht gewesen war – schließlich verwendete Amundsen ausschließlich schwarze Flaggen –, wirkte das dunkle Tuch auf die Engländer doch wie ein Trauerflor. Es war ein ungeheurer Schock für die fünf Männer. Alle Wünsche, alle Träume, alle Hoffnungen mussten sie an dieser Stelle in der trostlosen weißen Einöde begraben. Hatte die freudige Erwartung eben noch sämtliche körperlichen
Schmerzen und psychischen Belastungen überlagert, so traf sie jetzt die schlagartige Erkenntnis, den Wettlauf verloren zu haben, mit voller Wucht. Plötzlich spürten sie wieder den eisigen Wind in den von Frostbeulen übersäten Gesichtern, und die feuchtkalte Luft drang scharf durch Mark und Bein. In dieser Nacht bekam kaum einer der Männer ein Auge zu. »Alle Tagträume sind dahin«, schrieb Scott bitter. »Es wird ein mühseliger Rückmarsch werden.«
Die Laufwege beider Expeditionen in der Umgebung des Südpols: Scott folgte den Spuren, die Amundsen einen Monat zuvor hinterlassen hatte.
Am nächsten Morgen folgten sie den Spuren der Norweger weiter nach Süden und schlugen am Abend ihr Lager am Pol auf. Es war der 17. Januar 1912 – 35 Tage, nachdem Amundsen und seine Männer dort angekommen waren. »Der Pol. Ja, aber unter ganz anderen Umständen als erwartet«, trug Scott konsterniert in sein Tagebuch ein. »Großer Gott! Dies ist ein entsetzlicher Ort und schrecklich genug für uns, weil wir uns bis hierher
gekämpft haben, ohne dadurch belohnt zu werden, die Ersten zu sein.« An diesem Abend gab es endlich wieder einmal genügend zu essen, und als besonderer Hochgenuss machte eine Zigarette die Runde. Naturgemäß wollte im Zelt dennoch keine Feierstimmung aufkommen. Alle hingen ihren eigenen Gedanken nach, die Männer suchten nach Ursachen für ihren Fehlschlag oder dachten an die norwegischen Konkurrenten.
Amundsen müsse wohl einen leichten Aufstieg aufs Polarplateau gefunden haben – so bog sich Scott die Sache zurecht. »Er hat uns insofern geschlagen, als er einen Wettlauf veranstaltet hat. Wir haben getan, was wir uns vorgenommen haben, und genau unser Programm erfüllt«, gab sich Wilson gewohnt sachlich. Bowers dagegen suchte Trost in künstlich überhöhten Idealvorstellungen nach dem Muster von Sir Clements Markham: »Es ist traurig, dass die Norweger uns zuvorgekommen sind, aber ich bin froh, dass wir es auf die gute britische Art, den Schlitten selbst zu ziehen, geschafft haben. Das ist die traditionelle britische Methode, sich mit dem Schlitten zu bewegen, und dies ist die größte Reise, die Menschen je unternommen haben.« Für Oates dagegen war derart heroische Selbstüberhöhung blanker Unsinn. Amundsen habe ganz einfach seine fünf Sinne beisammen gehabt, schrieb er. »Die Norskies … scheinen mit ihren Hundegespannen einen bequemen Ausflug gemacht zu haben, ganz im Gegensatz zu unserer elenden Schlittenzieherei mit menschlicher Muskelkraft.«
Nachdem sie einige Messungen vorgenommen hatten, liefen die Männer am Morgen des 18. Januar in Richtung Südosten, wo sie den genauen Polpunkt vermuteten. Unterwegs entdeckten sie das »Polheim«-Zelt der Norweger, das sie ob seiner genial einfachen Konstruktion beeindruckte. Im Inneren stießen sie auf die beiden Briefe Amundsens an König Haakon und an Scott: »Sehr geehrter Herr Kapitän Scott! Da Sie wahrscheinlich der Erste sind, der nach uns dieses Gebiet erreicht, möchte ich Sie freundlich bitten, diesen Brief an König Haakon VII. weiterzuleiten. Wenn etwas von dem, was wir im Zelt zurückgelassen haben, für Sie von Nutzen sein kann, zögern Sie nicht, es zu gebrauchen. Ich wünsche Ihnen eine gesunde Heimkehr und bin mit freundlichen Grüßen Ihr ergebener Roald Amundsen.« Diese »Degradierung« Scotts »vom Forscher zum Briefträger«, wie ein Teilnehmer der Expedition später schrieb, hatte eine zutiefst deprimierende Wirkung auf die Briten. Dennoch nahm Scott das
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