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Der Widersacher

Der Widersacher

Titel: Der Widersacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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in den Ordner eingeheftet hatte, noch einmal aufmerksam zu studieren. Er ließ die Informationen auf sich einwirken und hielt nach neuen Blickwinkeln und Nuancen Ausschau. Wenn George Irving gesprungen war, genügte es nicht, wenn Bosch es nur glaubte. Er musste es beweisen können, nicht nur den zuständigen Stellen, sondern vor allem sich selbst. Und so weit war er noch nicht. Ein Selbstmord war eine vorsätzliche Tötung. Bosch musste ein Motiv und eine Gelegenheit und die dafür erforderlichen Mittel finden. Einiges hatte er diesbezüglich schon, aber nicht genug.
    Der CD -Wechsler spielte die nächste CD ab, und schon nach wenigen Takten erkannte Bosch Chet Bakers Trompete. Der Titel war »Night Bird« von einer deutschen Import- CD . Bosch hatte Baker die Nummer 1982 im O’Farrell in San Francisco spielen hören, das einzige Mal, dass er ihn live gesehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Drogen und das Leben Bakers gutes Aussehen und die West-Coast-Coolness längst zerfressen, aber die Trompete konnte er immer noch klingen lassen wie eine menschliche Stimme in einer dunklen Nacht. Sechs Jahre danach war er infolge eines Sturzes aus einem Amsterdamer Hotelzimmer zu Tode gekommen.
    Bosch sah seine Tochter an.
    »Hast du das aufgelegt?«
    Sie blickte von ihrem Buch auf.
    »Ist das Chet Baker? Ja, wollte ich mal hören. Wegen deines Falls und wegen des Gedichts im Flur.«
    Bosch stand auf und ging in den Flur. Er machte das Licht an. An der Wand hing ein gerahmtes Gedicht. Fast zwanzig Jahre zuvor war Bosch in einem Restaurant in Venice Beach gewesen, in dem der Verfasser des Gedichts, John Harvey, zufällig gerade eine Lesung gehalten hatte. Bosch hatte nicht den Eindruck gehabt, dass irgendjemand in dem Lokal wusste, wer Chet Baker war. Aber er wusste es, und ihm gefiel, was das Gedicht in ihm zum Schwingen brachte. Er stand auf und fragte Harvey, ob er eine Kopie davon kaufen könne. Harvey gab ihm einfach das Blatt, von dem er es abgelesen hatte.
    Bosch war wahrscheinlich tausendmal an dem Gedicht vorbeigegangen, seit er es zum letzten Mal gelesen hatte.
    CHET BAKER
     
    schaut aus seinem Hotelzimmer
    über die Amstel zu dem Mädchen,
    das mit dem Rad die Gracht entlangfährt
    und die Hände hebt und winkt, und als
    sie lächelt, ist er wieder in jener Zeit,
    als jeder Hollywood-Produzent
    sein Leben verarbeiten wollte
    zu dieser bittersüßen Geschichte,
    in der er sich unsterblich verliebte, aber nur
    in Pier Angeli, Carol Lynley, Natalie Wood;
    an jenem Tag schaute er im Studio vorbei,
    im Herbst zweiundfünfzig, und spielte
    diese perfekten Tonfolgen zu
    den Akkorden von My Funny Valentine –
    und wenn er jetzt von seinem Fenster
    und ihrem vorbeigleitenden Lächeln
    in das Blau eines perfekten Himmels hinaufschaut,
    weiß er, das ist einer dieser
    seltenen Tage, an denen er wirklich
    fliegen kann.
    Bosch kehrte wieder an den Tisch zurück und setzte sich.
    »Ich habe bei Wikipedia nachgesehen«, sagte Maddie. »Es ist bis heute unklar, ob er gesprungen oder gefallen ist. Einige meinen sogar, er wäre von Drogendealern runtergestoßen worden.«
    Bosch nickte. »Ja, manchmal lässt es sich nie sagen.«
    Er machte sich wieder an die Arbeit und sah weiter seine Unterlagen durch. Als er die Zusammenfassung der Vernehmung von Officer Robert Mason las, gewann er den Eindruck, dass ihm irgendetwas entging. Das Protokoll war vollständig, aber ihn beschlich das Gefühl, dass er bei dem Gespräch mit Mason etwas übersehen hatte. Er glaubte es fast greifen zu können, aber er bekam es nicht zu fassen. Er schloss die Augen und versuchte, Mason sprechen und auf seine Fragen antworten zu hören.
    Er konnte Mason vor sich sehen, wie er kerzengerade auf dem Stuhl saß und beim Sprechen gestikulierte und sagte, dass er und George Irving sich nahegestanden hatten. Trauzeuge bei seiner Hochzeit, Reservierung der Honeymoon Suite …
    Plötzlich hatte es Bosch. Als Mason erwähnte, dass er für Irving die Flitterwochen-Suite reserviert hatte, deutete er hinter sich, in die Richtung von Lieutenant Duvalls Büro. Nach Westen. In die Richtung, in der das Chateau Marmont lag.
    Bosch stand auf und ging rasch auf die Terrasse hinaus, um telefonieren zu können, ohne seine Tochter beim Lesen zu stören. Er schob die Tür hinter sich zu und rief in der Kommunikationszentrale des LAPD an. Er bat die Telefonistin, sechs-Adam-fünfundsechzig über Funk zu bitten, Bosch auf seinem Handy anzurufen. Es sei dringend.
    Als er ihr

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