Der Widersacher
Seite.
Bosch ließ ein paar weitere Minuten verstreichen. Er holte sein Handy heraus und sah nach, ob Chu eine Nachricht hinterlassen hatte. In seiner Mailbox war nichts, und Bosch vermutete, sein Partner hatte wieder einmal angerufen, um sich zu rechtfertigen. Das war nichts, was man jemandem auf die Mailbox sprach.
Er steckte das Handy wieder ein und gab dem Vater-Tochter-Gespräch eine ernstere Wendung.
»Da ist noch etwas, Mads, worüber ich mit dir reden wollte.«
»Ich weiß schon, du heiratest die Frau mit dem Lippenstift.«
»Nein, jetzt mal Quatsch beiseite. Außerdem war kein Lippenstift auf dem Glas.«
»Ich weiß. Also, was dann?«
»Na ja, ich überlege, ob ich meine Dienstmarke abgeben soll. In Rente gehen. Wird vielleicht langsam Zeit.«
Sie antwortete lange nicht. Er hatte mit einer sofortigen und vehementen Forderung gerechnet, sich solche Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, aber er musste ihr zugutehalten, dass sie erst darüber nachzudenken schien und nicht sofort mit einer möglicherweise falschen Antwort herausplatzte.
»Aber warum?«, fragte sie schließlich.
»Na ja, ich habe einfach das Gefühl, dass ich langsam alt werde. Bei allem – egal, ob Sport, Schießen, Musizieren, kreatives Denken – kommt irgendwann der Punkt, an dem es nur noch bergab gehen kann. Ganz sicher bin ich mir zwar nicht, aber vielleicht bin ich gerade an diesem Punkt angelangt und sollte deshalb aufhören. Ich habe gesehen, wie Kollegen den Biss verloren haben und wie gefährlich das werden kann. Ich möchte nicht die Chance verspielen, miterleben zu können, wie du erwachsen wirst und richtig gut in dem, wofür du dich schließlich entscheidest.«
Sie nickte scheinbar zustimmend, doch dann kamen ihre scharfe Beobachtungsgabe und ihr Widerspruchsgeist zum Vorschein.
»Und das alles nur wegen eines einzigen Falls?«
»Es liegt nicht nur an diesem einen Fall, aber er ist ein gutes Beispiel. Ich habe zuerst eine vollkommen falsche Richtung eingeschlagen. Vor fünf Jahren wäre mir das wahrscheinlich nicht passiert. Auch vor zwei Jahren nicht. Vielleicht fehlt es mir langsam am nötigen Biss, den man für so was braucht.«
»Aber manchmal muss man erst den falschen Weg einschlagen, um dann den richtigen zu finden.« Sie drehte sich auf ihrem Sitz und sah ihn direkt an. »Natürlich musst du das ganz allein entscheiden, genau, wie du mir das gerade gesagt hast. Aber ich an deiner Stelle würde nichts überstürzen.«
»Tue ich ja auch nicht. Außerdem ist da noch so ein Typ, den ich vorher finden muss. Aber ich dachte mir, das wäre eine gute Gelegenheit, um endgültig auszusteigen.«
»Was würdest du denn tun, wenn du aufhörst?«
»Keine Ahnung. Aber eins weiß ich sicher. Ich wäre ein besserer Vater. Ich könnte mich mehr um dich kümmern.«
»Deswegen wärst du nicht unbedingt ein besserer Vater.«
Bosch nickte. Manchmal konnte er kaum glauben, dass er sich mit einer Fünfzehnjährigen unterhielt. Das war so ein Fall.
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33
A m Sonntagmorgen setzte Bosch seine Tochter in der Mall von Century City ab. Sie hatte sich schon eine Woche zuvor mit ihren Freundinnen Ashlyn und Konner um elf dort verabredet, um gemeinsam zu shoppen, essen zu gehen und zu ratschen. Einen solchen Shopping-Tag legten die Mädchen jeden Monat ein, und sie suchten dafür jedes Mal eine andere Mall aus. Diesmal ließ sie Bosch mit gutem Gewissen allein. Hundertprozentige Sicherheit gab es in keiner Mall, aber er wusste, am Sonntag wäre die Security besonders wachsam, und die Century-City-Mall hatte in Sachen Sicherheit einen guten Ruf. Überall waren Wachleute in Zivilkleidung unterwegs, die scheinbar einen Einkaufsbummel machten, und am Wochenende war ein Großteil dieser Einsatzkräfte Polizisten, die sich etwas dazuverdienen wollten.
Wenn Bosch an diesen Mall-Sonntagen seine Tochter abgesetzt hatte, fuhr er meistens nach Downtown weiter, um im leeren Bereitschaftsraum von Offen-Ungelöst zu arbeiten. Er mochte die Ruhe, die dort am Wochenende herrschte, und in der Regel konnte er sich dann besser auf seine Arbeit konzentrieren. Aber dieses Mal hielt er sich vom PAB fern. Als er früh am Morgen den Hügel hinuntergefahren war, um Milch und Kaffee zu besorgen, hatte er sich auch die
Times
gekauft. Er hatte an der Kasse in der Schlange gestanden und gemerkt, dass auf der ersten Seite erneut eine Titelstory über George Irvings Tod war. Er kaufte sich die Zeitung und las den Artikel im Auto. Er war von Emily
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