Der Widerstand: Demi-Monde: Welt außer Kontrolle 2 (German Edition)
auch, dass man sehr viel Mut aufbringen musste, um der Gewalt abzuschwören. Und jetzt hatte sie die Gelegenheit, einiges von dem zu tun, worüber Percy Shelley nur zu sprechen gewagt hatte.
Percy Bysshe Shelley …
Sie versuchte verzweifelt, ihn aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Hübsch, talentiert und komplett unzuverlässig, war er derjenige gewesen, der sie verleitet hatte, immer wieder in die Demi-Monde zu kommen; seinetwegen war sie in diesem Kuddelmuddel gelandet.
Allein bei dem Gedanken an diesen Typen bekam sie Herzflattern. Gott, wie schön er gewesen war und wie sehr sie diesen Mann geliebt hatte. Sie konnte sich noch genau an seinen ersten Kuss erinnern. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass ein Mann sie mit voller Absichtgeküsst hatte. Sie hatten nebeneinander im Prancing Pig gesessen – nicht gerade der romantischste Ort der Welt –, als er sich vorbeugte, mit seinen Fingerspitzen ihre Wangen berührte, ihr Gesicht sanft zu dem seinen drehte und einen hauchzarten Kuss auf ihre Lippen drückte. O ja, sie hatte die Liebesromane gelesen, in denen beschrieben wurde, wie es war, wenn der Held zum ersten Mal die Heldin küsst, aber sie hatte das immer für unrealistischen Blödsinn gehalten. War es aber nicht. Dieser Kuss hatte so viele Gefühle freigesetzt, dass sie sich gar nicht mehr an alle erinnern konnte. Am deutlichsten war ihr im Gedächtnis geblieben, wie sie in Shelley hineinzustürzen meinte, als würden sie irgendwie miteinander verschmelzen. Es war, wie in Stereo ohnmächtig zu werden. Es waren die emotionalsten, die romantischsten, die erotischsten zehn Sekunden ihres Lebens gewesen.
Wie hatte Shelley es noch beschrieben? Glückseligkeit, die unermessliche Freude des ersten Kusses.
Ersten Kusses …
Jetzt stutzte sie bei dieser Erinnerung. Sie hatte nie zuvor darüber nachgedacht, aber Shelley hatte gewusst, was sie wirklich war, er hatte gewusst, dass sie eine falsche Rebellin war, ein falscher Punk, er hatte gewusst, dass sie trotz ihres schlechten Rufes als schwarzes Schaf in Wirklichkeit ganz anders war. Sie war nur Schein gewesen, ohne wirkliche Substanz, und hatte nie den Mut aufgebracht, sich so zu geben, wie sie wirklich war.
Und genau das war die Verlockung der Demi-Monde gewesen. Die eNorma, die man heraufbeschworen hatte, als sie in die Demi-Monde kam, war echter, als sie es jemals gewesen war. Verschwunden war der unbeholfene, einsilbige Teenager mit den hängenden Schultern. Die junge Frau, die der Computer zeigte, als sie zum ersten Mal die Demi-Monde einschaltete und durch die Straßen der Rookeries ging (ging? eNorma schwebte ), war die Norma, die sie hätte sein wollen, wenn sie den Mut dazu gehabt hätte. So hätte sie ausgesehen und gehandelt, wenn man ihr eine tüchtige Dosis Chuzpe, einen ordentlichen Schuss Mut verpasst hätte. Für Norma war ihre digitale Doppelgängerin eine Phantasie, die Wirklichkeit geworden war, und deshalb atemberaubend aufregend und grausam erschreckend zugleich.
Die Frage, die ihr auf den Nägeln brannte, war ganz einfach: Wie konnte sie in einem Computerspiel so schön aussehen, so selbstbewusst handeln und so verführerisch sein, und im wirklichen Leben so schüchtern und unsicher? Die Suche nach der Antwort darauf hatte sie immer wieder in die Demi-Monde getrieben. Die wirkliche Norma war identisch mit der eNorma – sie hatte dieselbe Größe, dieselbe Figur, sah genauso aus –, doch in der Demi-Monde wurde sie plötzlich zu dieser … Superfrau. Das Ganze war sehr verwirrend und sehr beunruhigend gewesen.
Und dann war noch die Aufregung dazugekommen, den lebendigen Percy Shelley zu treffen, ihren Lieblingsdichter, den Mann ihrer Träume. Diesen Traummann, der sie dann an Crowley verraten und den UnFunDaMentalistischen Wölfen zum Fraß vorgeworfen hatte. Doch wenn sie jetzt darüber nachdachte – war das denn wirklich so schlimm gewesen? Die Erfahrung von Schmerz und Angst hatte sie gezwungen, erwachsen zu werden. Bis sie aus erster Hand die extravaganten Attitüden und Überzeugungen der Demi-Monde kennengelernt hatte, hatte sie gar nicht gewusst, worum es im Leben ging, oder das Böse schätzen können. Ohne am eigenen Leib erfahren zu haben, wie rau das Leben war – und nirgendwo war es so rau wie in der Demi-Monde –, wäre sie ein Nichts geblieben, jemand, der das Leben nur von außen beobachtete. Die Demi-Monde hatte sie gezwungen, sich in der Welt zu engagieren … ein Player zu werden.
Die Zeit in der Demi-Monde
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