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Der Willy ist weg

Der Willy ist weg

Titel: Der Willy ist weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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nächstbesten Gegenstand - egal was es war, Latthammer, Moniereisen, Brechstange, Stechbeitel, Kreuzhacke - und drehte sich zu mir mit der Gewissheit, dass er im Begriff sei zu töten, und der gleichzeitigen Gleichgültigkeit über mögliche Konsequenzen in seinem blau angelaufenen Gesicht und seinen kleinen, nicht zueinander passenden Augen. Das eine braun, das andere grün.
    Man mag mich dafür schelten, doch seither bin ich mit einem Vorurteil behaftet, was Träger dieser farblichen Konstellation ihrer Sehorgane angeht.
    »Ich brauche einen Spaten«, sagte Wolf. Ein Satz, wie er tagtäglich mit größter Selbstverständlichkeit über die Theken von Eisenwarenhandlungen in aller Welt gesprochen wird. Ein Satz, der, nüchtern betrachtet, nicht mehr ausdrückt als den Wunsch um Aushändigung eines vollkommen harmlosen Gartengerätes. Trotzdem riss er mir den Puls in Bereiche, die ein Hochschalten angeraten erscheinen ließen. Oder Gas wegnehmen oder anfangen zu beten.
    Vielleicht muss man ein paar Jahre auf dem Bau hinter sich haben, um zu wissen, dass der einzige wirkliche Unterschied zwischen einem Spaten und einer Axt eigentlich nur der Winkel ist, in dem Stahlschneide und Holzgriff zueinander stehen. Mit einem scharfen Spaten lassen sich armdicke Wurzeln durchtrennen. Vielleicht muss man aber auch nur platt auf dem Rücken liegen, einen Stiefel auf der Brust, umgeben von feindseligen Nazi-Bikern auf ihrem eigenen Terrain, um mehr als gewöhnlich in diesen Satz hineinzuinterpretieren. Auf alle Fälle schienen jetzt ein paar Worte von mir recht angebracht. Ich räusperte mich.
    »Psst«, machte Wolf, »ich glaube, er möchte noch etwas sagen.«
    Bisher waren wir einander noch nicht vorgestellt worden, also mimte ich Unwissenheit, holte tief Luft und sagte: »Ich verhandle nur mit eurem Boss persönlich.«
    Wolf nahm den Stiefel von meiner Brust und beugte sich tief herunter zu mir.
    Die Schwierigkeit, jemandem mit zwei verschieden gefärbten Iriden in die Augen zu schauen, besteht hauptsächlich darin, dass man hin- und hergerissen wird und sich nicht entscheiden kann. Bier? Wein? Bier? Wein? Bier? So ging's mir, als Wolf seinen flackernden Blick in den meinen versenkte.
    »Vorher läuft hier gar nichts?«, fragte er, und nach ein paar Sekunden schweigenden Starrens platzten wir beide heraus.
    Die beiden Sätze waren reines >Miami Vice< gewesen, fester Bestandteil jeder Sendung. Und die Dons der Drogenkartelle Südfloridas fielen jedes, aber auch wirklich jedes Mal wieder darauf herein. Zum Schreien.
    Aah, wundervoll. Es gibt doch nichts Besseres als ein freies, gemeinsames Lachen, um einer bedrohlichen Situation die Schärfe zu nehmen. Wolf richtete sich wieder auf, grinste, tat, als müsse er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen, machte >huh<, wandte sich zum Gehen und sagte, an seine Leute gerichtet: »Brecht ihm alle Knochen, karrt ihn irgendwo auf einen Acker und steckt ihn an.«
    Ich stand, ohne den eigentlichen Vorgang des Aufstehens mitbekommen zu haben. Zahlreiche Hände griffen nach mir. »Pfoten weg!«, schnappte ich. Mir reichte es. Mindestens sechs Fäuste hielten meine Arme. Aus irgendeinem Grund gab mir das ein besseres Gefühl, als wenn sie mich einfach so laufen gelassen hätten. Ein Gefühl von Stärke, Wichtigkeit. Mit dem Knie schob ich den grollenden Maulkorb von meinem Hosenschlitz weg. Der Hund, ein schwarzer Schäferhund mit Zottelmähne, knurrte lauter. Seit ich das Tor passiert hatte, liefen die Dinge nicht ganz so wie erhofft. Ich zog meine letzte Karte.
    »Wolf?«, fragte ich, raunend, fast schon vertraulich. Er ging einfach weiter. »Woo-olf?«, machte ich noch mal. Es klang wie ein Augenzwinkern. Als wollte ich ihm an den Arsch. Na, fast so. »Ich soll dir schöne Grüße bestellen«, schickte ich hinterher. Unter diesen Umständen, in diesem Tonfall, ein Satz, der geradezu schwanger vor Unterschwelligkeit daherkam. Was für Grüße konnten das sein, die in der Lage wären, auch nur das Geringste an meiner Situation zu verbessern? »Von Heiko«, fügte ich nach einer kunstvollen kleinen Pause hinzu.
    Wolf stoppte, drehte sich langsam zu mir, und eine Bö fuhr ihm durch den seltengescheitelten, schläfenrasierten Haarschnitt.
    Wieso friert er nicht, dachte ich. Das ist doch nicht normal. Nicht mal jetzt, dachte ich. Nachdem der Name gefallen ist. Ich würde frösteln, jetzt, an seiner Stelle, und wenn wir Hochsommer hätten. »Er kommt bald raus«, sagte ich,

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