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Der Willy ist weg

Der Willy ist weg

Titel: Der Willy ist weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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hatte ich verlangt.
    Mann, war mir schlapp! Die Nase saß zu, die Stirnhöhle saß zu, der ganze Kopf war dicht und stand unter Druck, als ob ich gestern gesoffen - Grog. Ich erinnerte mich. Da war der eine oder andere Grog gewesen, gestern Abend. Grog für alle. Zum Aufwärmen und als Prophylaxe gegen eine mögliche Erkältung. Schon nach dem dritten war mir irgendwie gar nicht mehr kalt gewesen ...
    Der Brief sah mich an.
    Über dem fünften oder sechsten war Deliah nach mir sehen gekommen, aufgeweckt durch den Radau, den wir in der Küche veranstalteten, und hatte mich mit ins Bett geschleppt. Gott sei Dank, sonst wäre es mir wahrscheinlich noch elender gegangen, heut Morgen. Und es reichte auch so schon.
    Der Brief sah mich an.
    Ich hätte ihn schon längst aufgerissen, wenn er nicht in der Mitte ausgebeult gewesen wäre. Ein Brief mit dreidimensionalem Inhalt. Man kann nie wissen, könnte eine Briefbombe sein. Zur Stärkung nahm ich einen vorsichtigen Schluck Brühe. Er quetschte sich vorbei an zwei faustdicken Mandeln und passierte einen Hals, der sich wie mit einer Holzraspel bearbeitet anfühlte. Jegliche noch so hoch konzentrierte Prophylaxe war damit wohl in den Wind gepisst gewesen.
    Der Brief sah mich an.
    Ich schlich ein wenig um den Tisch herum. Kann man über Nacht zum Rheumatiker werden? Jede Bewegung kostete Mühe. Ajeh, ich gehörte ins Bett. Für 'ne Woche oder so. Krankenschein. Wo waren eigentlich meine Zigaretten?
    Der Brief sah mich an.
    Ich sah zurück. Nahm einen Schluck, beugte mich dichter heran. Adresse mit der Schreibmaschine getippt, wie bei dem anderen auch. Marke allerdings nicht in Holland abgestempelt, sondern in Mettmann, diesmal. Breitscheid, wo der Schwede wohnt, gehört zu Mettmann. Zufall? Aller Wahrscheinlichkeit nach, ja.
    Trotzdem.
    Gegen inneren Widerstand tastete ich den Umschlag ab. Er enthielt einen länglichen, tja, Gegenstand. Oh, ich ahnte, und ich hoffte gleichzeitig, meine Ahnung möge mich trügen. Mit einem Küchenmesser trennte ich den oberen Rand auf, fasste, ohne hinzusehen, mit spitzen Fingern hinein und zupfte ein Stück spiegelglatten Kartons ans Licht. Ein, wie ich es mir gedacht hatte, Polaroid-Foto. Willy blickte mir entgegen. Wie erwartet. Er wirkte sehr bleich und sah überhaupt nicht glücklich aus, wenn auch, andererseits, nicht mehr ganz so verdötscht wie auf der ersten Aufnahme. Was, unter anderem, anzeigte, wie doch die Zeit verging. Mit der Rechten klemmte er sich eine -wie ich es mir gedacht hatte - Bildzeitung vor die Brust. Die Linke hielt er einfach nur so in die Luft, Ellenbogen abgestützt, Handrücken zu mir, Finger nach oben.
    Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, -Stumpen. Blutiger Stumpen.
    Ich musste mich setzen. Vorahnung hin oder her, ich musste mich hinhocken.
    »Das ist ernst!«, brüllte Charly und hämmerte die Faust auf den Tisch, dass das Frühstücksgeschirr einen Satz in die Höhe machte und die Bodenfliesen rings um die Tischbeine sternförmige Rissmuster entwickelten.
    Er hatte ja Recht, aber mit einem Schädel wie dem meinen wäre ich um jedes Dezibel weniger dankbar gewesen.
    »Das gibt Krieg!«, dröhnte er und trat einen Stuhl, dass es den gegen die Wand schmetterte, von wo er zu Boden rieselte und sich für den Kamin in der Halle empfahl. Stühle haben im Fuckers' Place eine außergewöhnlich unterdurchschnittliche Lebenserwartung.
    Mitten auf dem Tisch, senkrecht unter der baumelnden Glühbirne, in einem großen, freigelassenen Kreis zwischen all den Brettchen und Tassen und den für nun wirklich jeden Belang benutzten Tupperdosen lag Willys Finger, und drumherum wurde Kaffee getrunken und geraucht und geraucht. Nur gegessen wurde nicht, und nach sprechen schien es auch den wenigsten zu sein.
    »Dafür werden wir sie büßen lassen!« Charly gab der Wand zum Esszimmer eins mit der Faust, und auf der anderen Seite konnte man Mutter Heckhoffs Porzellanvitrine zu Boden gehen hören.
    Ich war, wie alle am Tisch, völlig seiner Meinung, doch klärte das leider nicht die ungeklärte, leidige Frage nach dem >Wen?<. Wen werden wir büßen lassen?
    Mettmann. Breitscheid. Zufall? Ich legte den Umschlag wieder hin, griff erneut nach dem Foto, das seine Runde um den Tisch schon zweimal hinter sich gebracht hatte. Hielt es am ausgestreckten Arm von mir weg. Drehte es auf den Kopf. Auf die linke, auf die rechte Seite. Immer auf der Suche nach dem, was ich, was wir bis dahin übersehen hatten. Die Schlagzeile war die von

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