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Der Willy ist weg

Der Willy ist weg

Titel: Der Willy ist weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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gewohnten Umgebung und sehe auch etwas, na, abgerissen aus. Schon im nächsten Brief hoffe ich, Ihnen alles näher erklären zu können, bis dahin möchte ich nur, dass Sie mir glauben, dass dies hier keine Gefängniszelle und die Umstände nicht meine Schuld sind. Also, warten Sie bitte auf meinen nächsten Brief und ziehen Sie bitte keine voreiligen Schlüsse. Die GROSSE ÜBERRASCHUNG wartet ja auch noch!
    Bis bald, in tiefster Verehrung,
    Ihr W. Heckhoff
     
    Ich wusste es! Ich schlug mit der Faust aufs Lenkrad. Was ich hier in Händen hielt, war ein kriminalhistorisches Dokument: Ein Entführter bringt seine Bewacher dazu, ihm einen Fan-Brief zu tippen und abzuschicken! Rasch hielt ich den Umschlag ins trüber werdende Licht: Ich wusste es! Mülheim. Abgestempelt in Mülheim a. d. Ruhr. Gierig nahm ich mir den Text noch mal vor. Erstaunlich vergnügt und optimistisch für ein Verbrechensopfer, doch ein Blick auf das Datum verriet mir, dass Willy vor sechs Tagen auch noch einen kompletten Satz Finger und ein intaktes Paar Ohren besessen hatte. Langsam las ich weiter.
    Große Uberraschung<, ojeh, was das wohl heißen mochte? Wahrscheinlich wollte er um ihre Hand anhalten - was heißt hier wollte, korrigierte ich mich, wenn, dann will er es immer noch - >... wie Sie wahrscheinlich gesehen haben, befinde ich mich ...<
    Der dicke Stapel, die schiere Anzahl der samt und sonders bis auf diesen einen, von mir getippten Briefe mag als Erklärung oder Entschuldigung herhalten, aber für einen kurzen Moment dachte ich allen Ernstes daran, Dagmar Berghoff anzurufen und zu fragen, wie Willys Verlies im Detail aussah und ob es ihm gut ginge.
    Dann startete ich den Motor und fädelte mich aus Willys Gedankenwelt zurück in die meine.
    Es war dunkel geworden, und das kleine gelbe Licht piekste und piekste mir pulsierend ins Auge. Eine ganze Tankfüllung verballert. Für Nüsse. Müde setzte ich den Blinker, bog von der Straße ab, hielt neben einer Zapfsäule, schaltete Licht und Motor aus, öffnete die Fahrertüre, schälte mich aus dem Sitz, machte zwei Schritte, kniepte die kleine Klappe im hinteren linken Kotflügel auf, schraubte den Deckel vom Einfüllstutzen, legte ihn auf den Kofferraum, nahm die Zapfpistole vom Haken und - ging dann durch alle diese Bewegungen in umgekehrtem Ablauf und mit zwanzigfacher Geschwindigkeit.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war gerade ein kleiner, lilafarbener Honda entlanggeschnürt.
    Meine Hinterreifen jaulten zwei parallele Halbkreisbögen in den Asphalt, und ich riss die Gänge durch wie sonst nur Mahnbriefe von der Stadtverwaltung, bis ich die Rückseite des Honda mit meinen Scheinwerfern bestrich. Er trug, wie sich herausstellte, Essener Kennzeichen. Da hätte ich noch 'nen Tag und noch 'ne Tankfüllung lang herumsuchen können. Eine hellhaarige, bubiköpfige Fahrerin saß am Steuer. Sie war allein. Ich folgte in wechselndem Abstand, saugte mich vor Ampeln nahe heran, um nicht bei Rot drüberbrezeln zu müssen, und ließ mich anschließend wieder zurückfallen, wechselte die Fahrspuren, sooft welche zum Wechseln da waren. Einmal meinte ich im Innenspiegel des Honda diesen kreisrunden Mund auszumachen, diese weichen Lippen, die mir süße Töne ins Ohr gepustet hatten, süße Küsse aufgedrückt und . ähhh .
    Ich hatte einmal beschlossen, mich keinen Sentimentalitäten hinzugeben, hatte mir klargemacht, dass ich bei Gott andere Sorgen hatte und Frauen so oder so kommen und gehen, und doch wollte mir manchmal scheinen, als ob ich möglicherweise unter gewissen Umständen ab und zu mal vielleicht nicht ganz so knallhart strukturiert wäre, wie ich immer gerne meine.
    Deliah stach zügig in die Mülheimer City hinein, folgte ohne Anzeichen von Verwirrung dem schikanösen Zickzackkurs, den ein der Umnachtung anheim gefallenes Planungsamt den Autofahrern dieser Stadt aufnötigt, umrundete dann aber ohne erkennbaren Grund zweimal hintereinander den gleichen Block, was mich kurz in eine Parklücke zwang, und verschwand schließlich, gerade als ich wieder Blickkontakt bekam, mit abgeschalteten Scheinwerfern abrupt nach rechts in der . Bleichstraße.
    Tsä, dachte ich, passierte die Einmündung und bog eine Straße später rechts ab und beschleunigte kräftig. Wollte Deliah die Bleichstraße als Durchgangsstraße benutzen, müsste sie am nächsten Stoppschild wieder meinen Weg kreuzen. An der Bushaltestelle kurz davor bremste ich den Wagen zusammen, parkte, löschte alle Lichter und

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