Der Wind der Erinnerung
benutzen, der bei der letzten Schafschur liegengeblieben war. Sie breitete ihn auf dem Boden aus. Er roch ein bisschen muffig nach dem Mann, dem er einmal gehört hatte, obwohl sie ihn bereits gewaschen hatte. Alice überließ ihr ein klappriges Bücherregal aus dem Lagerraum, in das sie Lucys Lieblingsbücher stellte. Die Sonne verschwand von den Feldern und färbte den Himmel rosa. Da es kein Feuer gab, wagte sie nicht, das Zimmer zu lüften. Es roch ein wenig nach Schweiß und Desinfektionsmittel. Draußen vor dem Häuschen pflückte sie einen kleinen Blumenstrauß und stellte ihn in eine Tasse, deren Henkel abgebrochen war. Dann setzte sie sich auf den Schlafsack und weinte. Dieses Zimmer konnte man nicht wohnlich herrichten, nicht so, dass es einem kleinen Mädchen gefiel. Lucy würde aus Hobart, wo sie ein Spielzeugpony und bestickte Bettwäsche hatte, in dieses kahle Zimmer heimkehren. Da traf sie die furchtbare Erkenntnis: Sie hatte sich so sehr bemüht und konnte ihrer Tochter dennoch nichts Besseres bieten.
Es klopfte leise. Sie wischte sich die Tränen ab und öffnete die Tür.
»Mikhail?«
Er schaute sie forschend an, bemerkte auch die Tränen, sagte aber nichts. »Du spielst Karten.«
»Wie bitte?«
Er griff in die Tasche seiner fadenscheinigen Jacke und holte ein Kartenspiel heraus.
»Oh, nein, ich … ich habe noch nie gespielt.« Wohl aber Hunderte von Partien angesehen.
»Ist einfach. Abend ist lang und einsam. Du spielst Karten mit mir. Ich bringe bei.«
Also ließ sie ihn herein. Sie setzten sich auf die umgedrehten Obstkisten und spielten auf dem Bücherregal. Geduldig brachte er ihr die Regeln bei, und sie verwendeten Streichhölzer statt Geld als Einsatz. Es wurde Abend, und Beattie war dankbar für seine Gesellschaft, für diese ganz normale menschliche Wärme angesichts einer kalten Zukunft.
Am nächsten Abend stopfte sie gerade im flackernden Kerzenlicht eine ihrer Unterhosen, als es wieder klopfte. Sie rechnete schon mit Mikhail und seinem Kartenspiel, doch diesmal war es Raphael. Und er war betrunken.
»Beattie!«, rief er und wollte sie umarmen. Sie trat beiseite, und er stolperte, richtete sich wieder auf und schlurfte ins Zimmer. »Ich bin so froh, dass du zu uns gezogen bist.«
Sie hätte gern gesagt, dass ihr keine Wahl blieb und sie ihre Tochter am liebsten eine Million Meilen von ihm entfernt gewusst hätte, doch so sagte sie nur zähneknirschend: »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Blanchard.«
Er setzte sich auf ihren Schlafsack, wobei er fast das Gleichgewicht verlor. Dann klopfte er auf die Decke neben sich, aber sie wich zurück und drückte sich an die Wand neben dem Fenster. Er war noch nie in die Nähe des Schererhäuschens gekommen, und sie hoffte, dass dies sein erster und einziger Besuch bleiben werde. Immerhin war Mikhail genau gegenüber und konnte ihr notfalls helfen, ihn loszuwerden.
»Wann nennst du mich endlich Raphael?«, fragte er schmollend.
Alice hatte ihr gesagt, dass er sein gesamtes Personal diesem Test unterzog. Sowie jemand auf das förmliche »Mr. Blanchard« oder »Sir« verzichtete, wurde er gefeuert.
»Es ist unpassend, Sir.«
Er blickte sich um. »Ziemlich kahl hier drinnen.«
Hoffentlich erkannte er das Bücherregal nicht wieder. »Diese Woche besorge ich Möbel.«
»Wenn du mit mir schläfst, kaufe ich dir ein ganzes Zimmer voll.«
Beatties Haut kribbelte. »Danke, nein, Sir.«
Seufzend legte er sich auf ihr Kopfkissen. »Du bist ein stures Ding. Ich bin fest entschlossen, dich zu bekommen, bevor ich weggehe.«
»Sie gehen weg?«
»Möglicherweise muss ich das. Mein Vater ist wütend auf mich.« Einen Moment lang wirkte er so verletzlich und jungenhaft, dass er Beattie beinahe leidtat. »Ist dein Vater jemals sauer auf dich, Beattie?«
»Mein Vater ist tot, Sir.« Plötzlich wurde ihr klar, dass er über das Geschäft sprach, das er laut Mikhail zugrunde gerichtet hatte. Würde sie damit auch ihre Stelle verlieren? Ihr neues Zuhause? Hier in der Gegend gab es keine Arbeit. Was sollte sie tun, wenn sie diese verlor?
»Warum ist Ihr Vater wütend auf Sie?«
Sein Gesicht wurde wieder grausam und hart, und das Dämmerlicht warf dunkle Schatten auf seine Stirn. »Weil er ein pingeliger alter Scheißkerl ist. Weil er aus Eis und Stein besteht. Weil er dieses Anwesen gekauft hat, damit ich keine Schwierigkeiten mache, und es hat mir nur noch mehr Schwierigkeiten gebracht. Ich habe mich nicht um das Geschäft gekümmert und viel
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