Der Wind über den Klippen
Kaffee. Es war schon fast vier Uhr, ich konnte mit gutem Gewissen Feierabend machen. Aber vorher wollte ich noch einen Blick in Riikkas Zimmer werfen.
Ich ging durch den Flur im Obergeschoss zum Nordende des Gebäudes und öffnete die einzige Tür, hinter die ich noch nicht geschaut hatte.
Der etwa fünfzehn Quadratmeter große Raum, dessen Wände mit einer grünlichen Stofftapete mit Tannenzweigmuster bespannt waren, wurde von einem Klavier beherrscht. Als Bett diente ein breiter Futon, der wie ein Sofa zusammengefaltet war.
Das Klavier stand auf einem schalldämpfenden Podest, auch die Tür und zwei Wände waren offenbar schallisoliert.
Zuoberst auf dem Notenbrett lagen Lieder von Sibelius, das Heft öffnete sich wie von selbst bei dem Lied »Der erste Kuss«.
Ungeschickt klimperte ich die Melodie. Obwohl ich eher auf Rockmusik stand, hörte ich mir gelegentlich die Sibelius-Platte von Jorma Hynninen an, sodass mir das Lied vage bekannt war.
Auf dem Klavier lagen weitere Noten: Kuula, Mozart, ein Heft mit Sopranarien. Dann fiel mein Blick auf ein silbern gerahmtes Foto von Tapio Holma, das auf dem Schreibtisch stand. An der Wand hingen Zeitungsbilder von ihm. Als wäre Holma nicht Riikkas Freund, sondern ein Idol, für das sie schwärmte.
Auch in diesem Zimmer standen kaum Bücher, offenbar wurde bei den Merivaaras nicht viel gelesen. Im Wohnzimmer hatte ich nur ein paar Bände Standardlektüre gesehen, von den
»Sieben Brüdern« bis zum »Unbekannten Soldaten«. In Riikkas Regal fand ich Ratgeber für Naturkosmetik, Musikbücher und Liebesromane, von Daphne du Maurier bis zu Tuija Lehtinen.
Man konnte nur hoffen, dass Riikka eher die Heldinnen der Letzteren als die der Ersteren als Rollenmodell betrachtete.
Ich wollte gerade den Kleiderschrank öffnen, da stürmte Riikka herein.
»Muss das sein! Schnüffelt dein Kollege als Nächstes in meiner Unterwäsche rum?«
Ich gab keine Antwort, woraufhin Riikka wissen wollte, warum das Haus zweimal durchsucht wurde.
»Meine Mutter und ich wissen nicht genau, was Jiri treibt. Wir meinen auch, dass Pelztierfarmen verboten werden müssten und Schlachtvieh besser behandelt werden sollte, aber über die Wege, das zu erreichen, sind wir anderer Meinung als Jiri. Ich finde, es ist wichtiger, sich um sich selbst und seine Nächsten zu kümmern, als Fenster einzuschlagen.«
»Hast du es schon geschafft, Tapsa das Wurstessen abzuge-wöhnen?«, fragte ich, während ich ihre Kleidung musterte. Es war die Garderobe einer eleganten Frau: viele lange, schmale Röcke und reinseidene Blusen, daneben immerhin ein paar Markenjeans und ein Sweatshirt vom World Wildlife Fund.
»Zwingen kann ich niemanden. Aber Tapsa hat schon vieles eingesehen.« Sie trat an ihren Schreibtisch und zog die Schubladen auf. »Die andere Beamtin, Wang, hat sich bereits alles angesehen. Ist seitdem irgendein Verdacht gegen mich aufgekommen?«
Ich schüttelte den Kopf und durchsuchte ungerührt die Schubladen. Riikka hatte das Recht, bei der Durchsuchung ihres Zimmers anwesend zu sein. Die Kondomschachtel in der obersten Schublade überraschte mich nicht, ebenso wenig die prächtige Schmuckkollektion in der mittleren. Als ich zur untersten Schublade kam, stammelte Riikka:
»Guck nicht da rein, das ist so albern.«
Ich zog die Lade dennoch auf. Sie war leer, bis auf ein Foto.
Die Aufnahme war sicher bei einer Opernaufführung gemacht worden, darauf deuteten jedenfalls die Bühnenschminke, der weitschwingende Rock und die hochtoupierten schwarzen Haare der Darstellerin hin. Ihr Mund lächelte, doch die Augen waren herausgeschnitten, und auch an der Stelle, wo das Herz saß, prangte ein Loch.
Ich kannte die Frau auf dem Foto nicht, doch ihr Beruf und Riikkas Reaktion ließen nur einen Schluss zu: Suzanne Holtzinger, Tapio Holmas Exfrau.
»Es war Suzannes Schuld, dass Tapsa die Stimme verloren hat«, ereiferte sich Riikka. »Die Stimme ist ein sensibles Instrument, sie spiegelt jeden seelischen Zustand wider. Der Schock, verlassen zu werden, kann sie zerstören.«
»Hast du das von Tapsa?«
»Nein, das habe ich mir selbst zurechtgelegt, so viel weiß ich immerhin über Gesangsphysiologie. Suzanne wollte keine Kinder von Tapsa, weil bei beiden die Karriere darunter gelitten hätte, aber jetzt ist sie von diesem italienischen Tenor schwanger. Tapsa hat es von einem Kollegen aus Hamburg erfahren.«
»An Steine glaubst du nicht, dafür aber an so etwas«, sagte ich trocken und legte das Foto
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