Der Wind über den Klippen
wie der Marathonläufer, der er war. Am Stadioneingang kam einer der Kollegen auf die dumme Idee, einen Wächter wegen der nachlässigen Sicherheitskontrolle anzupflaumen, woraufhin alle Folgenden trotz strömenden Regens die Taschen vorzeigen mussten. Zum Glück merkte niemand, dass Lähdes Fernglas in Wahrheit ein Flachmann war.
Wir stiegen den D-Block hinauf und suchten uns Plätze auf Höhe der Mittellinie. Ein Meer von Regenschirmen verdeckte den Blick aufs Spielfeld. Ich zwängte mich zwischen Taskinen und Koivu und hoffte, die beiden würden mich trotz Regen und Wind warm halten. Zu Koivus anderer Seite saß Anu Wang. Die beiden sprachen über einen Film, den sie sich offenbar gemeinsam angesehen hatten. Als Koivu die Hand ausstreckte und Anu eine Haarsträhne aus der Stirn strich, musste ich schlucken.
Koivu war mehr als ein Kollege, er war auch ein guter Freund.
Warum hatte er mir nicht erzählt, dass er mit Wang ins Kino gegangen war? Fürchtete er sich vor kritischen Bemerkungen?
Das Publikum ließ sich von Dunkelheit und Regen nicht die Stimmung verderben. Lähde nahm die letzten Wetten entgegen, ich tippte optimistisch auf eins zu null für Finnland. Wir hofften, die Kälte würde die Ungarn lähmen.
»Hatte Ström nicht auch eine Karte? Weiß jemand, was mit ihm ist?«, fragte ich plötzlich mit einem Blick auf den leeren Platz neben Lähde.
»Er kommt nicht«, antwortete Lähde ausweichend und schraubte sein Fernglas auf.
»Pertsa hat Angst vor Schnupfen«, witzelte Puupponen und erntete dröhnendes Gelächter.
»Hast du ihn in den letzten Tagen gesehen?«, erkundigte ich mich bei Lähde.
»Wir waren gestern im ›Durstigen Lachs‹ in der Nähe seiner Wohnung. In der Zeit, die ich für zwei Bier gebraucht hab, hat er fünf geschluckt«, sagte Lähde, nahm einen Schluck aus seinem Fernglas und verzog das Gesicht.
Ich hatte am vorigen Abend versucht, Ström zu erreichen, und war wieder erleichtert gewesen, als er nicht abnahm. Es war nämlich kein Vergnügen, seine Wutausbrüche anzuhören. Dem Vernehmen nach hatte Väätäinen ein Tauschgeschäft vorgeschlagen: Er würde auf die Anzeige gegen Ström verzichten, wenn wir die Anklage gegen ihn wegen fortgesetzter Misshand-lung seiner Frau fallen ließen. Darauf konnten wir uns natürlich nicht einlassen.
Jetzt liefen die Mannschaften auf. Die Ungarn wurden mit Buhrufen empfangen, die Finnen, vor allem Fußballgott Jari Litmanen, mit frenetischem Beifall. Auch ich johlte aus vollem Hals. Ich war richtig aufgeregt, immerhin zog die Fußballwelt-meisterschaft weltweit die meisten Zuschauer an. Es wäre phantastisch, wenn Finnland sich diesmal für die WM qualifizie-ren würde.
Die finnischen Spieler kämpften hart, aber erfolglos. Zwar machte die Kälte die Ungarn steif, doch auch das Spiel der Finnen kam nicht recht in Gang. Der Regen wurde immer heftiger, ein Rinnsal lief mir von der Kapuze des Regencapes auf die Nase, die Lederhandschuhe waren nach zwanzig Minuten durchnässt. Dankbar nahm ich einen wärmenden Schluck aus Lähdes Fernglas.
»Litti! Litti!«, rief Puupponen anfeuernd.
»Litmanen ist süß«, vertraute Wang mir lächelnd an.
»Er spielt verdammt gut, aber als Mann ist er nicht ganz mein Geschmack«, antwortete ich, woraufhin Anu Wang, Liisa Rasilainen und ich, nur um die männlichen Kollegen zu ärgern, den schönsten Mann auf dem Spielfeld kürten.
»Marias Traummänner kennt man ja. Wieso hängen sie übrigens nicht in deinem neuen Büro?«, fragte Koivu. Er spielte auf die Collage mit Fotos von Geir Moen, Jon Bon Jovi, Jarmo Mäkinen und anderen Prachtexemplaren an, die mir meine Freundinnen zum Polterabend geschenkt hatten.
»Was der Hauptmeisterin recht ist, ist der Kommissarin noch lange nicht billig … Verdammt nochmal! Lasst die Ungis nicht durch! Bravo, Teuvo!«, brüllte ich, als unser Torwart glänzend parierte.
In der Pause merkte ich, dass ich Schüttelfrost hatte. Zum Glück waren wenigstens die Füße noch trocken. Vielleicht war es klug von Ström gewesen, zu Hause zu bleiben, womöglich holte sich das ganze Dezernat eine Lungenentzündung und war wochenlang außer Gefecht gesetzt. Taskinen holte sich Kaffee und brachte mir einen Becher mit, dessen Wärme mich über den Beginn der zweiten Halbzeit hinwegtrug. Das Spiel der Finnen war lebhafter geworden, und als Antti Sumiala in der zweiund-sechzigsten Minute eindrucksvoll das Führungstor erzielte, spielte der Regen keine Rolle mehr. Wir schrien und
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