Der Wind über den Klippen
auf Koivu zu warten. Ich steckte einen Zettel unter den Scheibenwischer, ich sei schon weg und er solle morgen um halb acht zur Besprechung kommen. Dann ging ich zum Bahnhof Tikkurila. Das Wissenschaftsmuseum Heureka glänzte in der Sonne wie ein Raumschiff. Als ich auf den Bahnsteig kam, klingelte mein Handy. Seija Saarela wollte mich sprechen.
»Sie haben Mikke nach Harri Immonen gefragt. War sein Tod denn kein Unfall?«
»Das steht im Moment noch nicht fest. Haben Sie mir denn etwas zu Harri zu sagen?«
»Ja, aber ich kann jetzt nicht lange sprechen. Ich muss bis morgen früh eine Partie Steine schleifen.«
»Gut, dann sehen wir uns morgen auf dem Präsidium.«
»Das geht nicht. Ich habe versprochen, den ganzen Tag im Reformhaus im Einkaufszentrum ›Lippulaiva‹ auszuhelfen, ich darf da gleichzeitig meinen Schmuck verkaufen.«
»Vielleicht hat einer meiner Leute Zeit«, sagte ich säuerlich.
Heute war offenbar einer der Tage, an denen nichts klappte.
»Ich möchte aber mit Ihnen persönlich sprechen. Nicht nur über Harri, sondern zum Beispiel auch über Mikke. Es war ein furchtbarer Schock für ihn, diesen Selbstmörder zu sehen.
Warum hat der arme Junge sich denn das Leben genommen?«
»Das dürfte Sie wohl nichts angehen. Ich muss jetzt Schluss machen.«
Der Zug fuhr ein, ich schaltete das Handy aus. Zu meinem Pech geriet ich in einen Wagen voll lärmender, fluchender Halbwüchsiger. Als einer von ihnen auch noch anfing, auf den Boden zu rotzen, war ich versucht einzugreifen, wagte es aber nicht, denn bei der Wut, die in mir steckte, hätte ich für nichts garantieren können. Womöglich hätte ich mich genauso verhalten wie Ström.
Ich hielt durch bis zum Helsinkier Hauptbahnhof. Dort wäre ich am liebsten schnurstracks in die nächste Kneipe marschiert, doch der Rabenmutterkomplex hielt mich davon ab. Natürlich würde ich mit dem nächsten Bus zu meinem verletzten Kind fahren. Die Zeit bis zur Abfahrt reichte jedoch für einen Abstecher ins Alkoholgeschäft. Ich kaufte eine große Flasche Anisschnaps und eine Taschenflasche Whisky, die ich gleich auf der Straße aufschraubte und leerte. Brennende Wärme floß durch meinen Körper und verwandelte sich während der Busfahrt in Entspannung. Ganz in der Nähe von Ströms Wohnung musste ich umsteigen, aber selbst wenn ich Zeit gehabt hätte, ich hätte ihn nicht besucht. Erst als ich die Ison-Henttaantie entlangging, wurde ich endlich ruhiger. Auf den Feldern wechselten Braun und Gelbgrün miteinander ab, ein Spatzenschwarm plünderte den Vogelbeerbaum. Leider störte das unaufhörliche Dröhnen der Bossiermaschinen an der neuen Umgehungsstraße die Idylle. Dann wurde auf der Baustelle gesprengt, und eine Staubwolke senkte sich über den Acker wie außerirdisches Gift in einem Science-Fiction-Film.
Iida, die mir durch den Flur entgegentapste, sah mit ihrer Augenklappe aus wie ein Piratenbaby. Die Wunde schien sie nicht zu stören. Ich nahm meine Tochter auf den Arm und küsste ihre kleinen, nach Grießbrei duftenden Bäckchen.
»Komm, wir legen uns eine Weile hin, Mama ist müde.«
»Iida aua«, sagte sie und zeigte auf ihre Schläfe.
»Was? Sag das nochmal«, rief ich, denn bisher hatte sie nur einzelne Wörter gesprochen, und auch das nur selten. Aber Iida wiederholte ihren ersten Satz nicht, sondern verkroch sich in meine Arme. Ich holte in der Küche eine Banane, von der Iida die Hälfte für sich forderte. Antti, der im Wohnzimmer saß und in der Zeitung des Naturschutzbundes las, reckte sich, um mir einen Kuss zu geben.
»Du riechst nach Whisky«, stellte er verwundert fest.
»Ich bekenne mich schuldig, Euer Ehren. Nach dem Kriminalamt war das nötig. Ich leg mich mit Iida ein bisschen lang.«
»Dann mach ich inzwischen einen Spaziergang. Du hast doch nicht vergessen, dass ich morgen Abend ins Konzert der Tapiola-Sinfonietta gehe?« Ich brummte etwas Undefinierbares, denn natürlich war mir das völlig entfallen. Dann trug ich Iida nach oben, hörte sie glucksen und betrachtete die kleinen Finger, die abwechselnd einen Turm aus Duplosteinen bauten und mit meinen Haaren spielten. Bald darauf legte sie sich zu mir und drückte den Kopf an meine Brust, als wollte sie Milch. Das Stillen war eine der wenigen Seiten der Mutterschaft, bei denen ich den Anforderungen gerecht geworden war. Ich hatte genug Milch gehabt, und das Baby hatte die Kunst des Trinkens schnell gelernt. Es war ein aufregendes Gefühl gewesen, dass mein Körper Iida
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