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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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denkbaren Weise, damit sie nicht zum Militär mussten.
    Die Bürger von Jaroslawl hatten sich vor dem Militärdienst gedrückt, indem sie in den umliegenden Dörfern Leibeigene kauften, die an ihrer Stelle einrücken mussten. »Dreihundertundsechzig Rubel ist der gängige Preis für einen guten Rekruten«, sagte Igor.
    Die Gemeinden, die Leute aus den eigenen Reihen abstellten, gaben ihnen nicht genügend Verpflegung mit, oft nicht einmal halb so viel Mehl, wie sie brauchten, damit sie sich jeden Tag Brot backen konnten. Wie sollten sie damit auskommen? Und wie sollten die Männer bei Kräften bleiben, wenn sie sich ausschließlich von Mehl und Wasser ernährten? Soldaten brauchten auch Gemüse und Fleisch oder Fisch. Die russische Armee würde verhungern, noch bevor der Marschbefehl kam.
    Die Soldaten hatten nicht einmal genügend Brot zu essen, aber für einen neuen Palast war genug Geld da. Wieso war Apraxin zum Oberkommandierenden ernannt worden, ein alter Sack, der seinem Adjutanten verbot, ihn vor zehn Uhr morgens zu wecken?
    Es ging ihm einfach nicht in den Kopf, wie all das sein konnte.
    Er hatte geglaubt, bei der Armee zählten Leistung und Effizienz.
    Er strich sich übers Kinn. »Erinnerst du dich an die Brüder Orlow, kison'ka ?«
    O ja, ich erinnerte mich an die beiden jungen Offiziere, die bei den Zusammenkünften in unserem Salon so gespannt zugehört hatten, wenn Igor erzählte. Der mit der Narbe im Gesicht war Alexej, der andere hieß Grigori. Sie waren seinem Beispiel gefolgt, berichtete Igor, und hatten sich zu einer Armeeeinheit versetzen lassen, die aktiv am Krieg teilnehmen sollte.
    »Sie sind beide ausgezeichnete Offiziere, aber nur Alexej teilt meine Befürchtungen«, fuhr mein Mann fort. Grigori war eher der Typ, der glaubte, dem Mutigen gehöre die Welt, man solle sich nicht so viele Gedanken machen, am Ende werde schon alles gut werden. »Wir regen uns auf«, sagte Igor, »und Grigori vertreibt sich derweil die Zeit mit schönen Frauen. Man wird ja sehen, wer recht hat.«
    Er hielt einen Moment inne. Ich sah ihn an, die wettergegerbte Haut, die dünnen Lippen, angespannt in Erwartung schlimmer Ereignisse.
    »Unser Adel zählt nicht viel, es ist ja nur ›Dienstadel‹.« Igors Stimme klang bitter. Auf der einen Seite die vornehmen Geschlechter der Schuwalows und der Woronzows, auf der anderen die Malikins und die Orlows. Die überkommenen Standesunterschiede lebten fort. Die Nachkommen der alten Aristokratie hörten von frühester Jugend an immer nur von den großen Taten erzählen, die Ahnen, deren Namen sie trugen und deren Blut in ihren Adern floss, vollbracht hatten. Diejenigen, die ihren Aufstieg in der Rangtabelle nicht ihrer vornehmen Geburt, sondern ihren Verdiensten oder kaiserlicher Gunst verdankten, wurden immer verdächtigt, sie seien nur Emporkömmlinge, die niederen Lüsten der Kaiserin gedient oder es verstanden hatten, sich sonstwie bei ihr einzuschmeicheln.
    Man erlaubte ihnen gnädig, sich adelig zu nennen, aber sie wurden nicht als ebenbürtig akzeptiert.
    »Sie erkennen uns nur dann an, wenn wir sie dazu zwingen«, sagte Igor so laut, dass Darja von ihrer Arbeit aufschaute.
    Ich legte den Finger auf die Lippen, aber Igor schüttelte den Kopf. »Du weißt es doch selbst, kison'ka . Du hast es immer gewusst, nicht wahr?«
    Er griff nach meiner Hand, und da spürte ich, wie sich der Knoten in meinem Hals löste.
    Nach Igors Abreise am nächsten Morgen war Darja schweigsam und in sich gekehrt. »Du musst tapfer sein«, hatte er zu ihr gesagt. »Denk daran, dass du die Tochter eines Soldaten bist.« Sie nickte, als ich ihr versicherte, dass ihr Papa bald wiederkommen würde, aber sie fragte nicht mehr, wann das sein würde.
    Wenn ich zurückdenke, erinnere ich nur seine Abwesenheit, sehe den leeren Tisch vor mir, auf dem seine Sachen gelegen hatten, rieche, wie sich der Duft von Lederfett und Schnupftabak verflüchtigt. Und ich weiß noch, dass ich mir sagte: Noch befindet
sich Russland nicht im Krieg. Und solange er damit beschäftigt war, Rekruten auszuheben, war er in Sicherheit.
     
    Fünf Tage später verbreitete sich die Nachricht, dass Friedrich von Preußen mit seiner Armee in Sachsen eingefallen war und über Leipzig nach Dresden vorrückte. Im September, als der Hof wieder nach Sankt Petersburg umzog, hatten die Truppen Dresden erreicht. Im Oktober kapitulierte die sächsische Armee, die bei Pirna eingeschlossen war.
    Die Kaiserin interessierte sich jetzt nur noch

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