Der Winterpalast
und jedes Mal war das Kind ganz nass geschwitzt gewesen.
Sie war zornig, tief erbost in ihrem Leid. Kam die Kaiserin je einmal auf den Gedanken, das Kinderzimmer zu lüften?, fragte sie mich. War niemand in dieser ganzen Hofgesellschaft fähig, der Kaiserin einen vernünftigen Rat zu geben? War das so schwierig?
Seit Annas Geburt hatte Katharina ihr Schlafzimmer kaum je verlassen. Sie sei immer noch zu sehr geschwächt, behauptete sie. Stanislaw war häufig bei ihr und zog sich bei Gefahr in sein Versteck zurück. Fürst Naryschkin, seine Schwester Anna und Fürstin Daschkowa kamen oft zu Besuch. Manchmal hörte ich Gelächter, aber meistens redeten sie nur leise miteinander. Sie kannten sich aus bei Hof und wussten, dass man immer mit Lauschern rechnen musste.
»Die Großfürstin isst für zehn«, sagten die Zofen augenzwinkernd, wenn sie das Geschirr abräumten. Ich wies sie zurecht: Sie sollten ja den Mund halten, wenn sie ihre Stellung behalten wollten.
Sie versicherten erschrocken, dass sie kein Sterbenswörtchen verlauten lassen würden.
Monsieur Rastrelli, der schon so oft dafür gescholten worden war, dass der Bau sich so lange hinzog, verkündete voller Stolz, dass der Winterpalast nun bald bezugsfertig sein würde. Um der Kaiserin die Wartezeit zu versüßen, lud er sie ein, sich gemeinsam mit dem Favoriten bei einer Besichtigung davon zu überzeugen, welche Fortschritte er gemacht hatte.
Der Baulärm um sie herum störte Elisabeth nicht im Mindesten. Es machte ihr auch nichts aus, wenn frischer Gips an ihren Schuhsohlen kleben blieb und ihre Hofdamen über verstreute Fliesenscherben oder umherliegende Stuckmodel stolperten. An Iwan Schuwalows Arm, gefolgt von den Damen und Herren des Hofstaats, schritt sie durch die bereits fertiggestellten Räume und war entzückt.
»Mehr Licht!«, hatte sie von ihrem Chefarchitekten verlangt, als er ihr vor zehn Jahren seine Entwürfe vorgelegt hatte, und sie hatte es bekommen: Große Fenster ließen das Sonnenlicht ein, überall blitzten Vergoldungen und kostbare Steine. Monsieur Rastrelli hatte ihr vergoldete Ornamente auf weißen Wänden geschenkt, Spiegel, die den Schein der Kerzen reflektierten, glitzernde Mosaiken und die prächtig schimmernde Glut des Bernsteins.
»Die russische Baukunst ist von einer Reinheit«, sagte er, »die in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat. Dieses Licht, das Ihre Majestät Russland geschenkt hat, wird bleiben. Diese Pracht wird ganz Europa beeindrucken.«
Das gefiel der Kaiserin.
Alle ihre Zweifel an Monsieur Rastrelli waren vergessen, sie nannte ihn rückhaltlos ein Genie, und dies, obwohl nicht zu über
sehen war, dass auch in den Räumen und Bauabschnitten, die er ihr als fertig präsentiert hatte, in Wahrheit noch eine Menge zu tun war. Sobald der hohe Besuch abgezogen war, machten sich Steinmetze, Maurer, Zimmerleute und Maler wieder ans Werk, um all die Unzulänglichkeiten, die man für die Besichtigung kaschiert hatte, zu beseitigen oder in aller Eile abzureißen, was der Kaiserin missfallen hatte.
Katharina war weniger beeindruckt von Rastrellis Kunst. »Protzig und längst passé«, lautete ihr Urteil. »Warte, bis es Winter wird, Warenka. Wenn diese Riesenfenster zufrieren und im Frost zerspringen.«
In den Steppen der Ukraine, so hatte Igor mir einmal gesagt, kann ein vereinzeltes Wölkchen am winterlichen Horizont einen Schneesturm anzeigen. Der Reisende hat dann nur wenige Stunden Zeit, einen sicheren Unterschlupf zu suchen, bevor alle Straßen verschwinden und die Fuhrwerke, die noch unterwegs sind, sich in sonderbare Buckel verwandeln, die wie Grabhügel in einer gleichförmigen weißen Wüste liegen.
Die Nachrichten, die in den ersten Wochen des Jahres 1758 von der Front kamen, wurden mit wachsendem Befremden aufgenommen. Nach den spektakulären Siegen des Vorjahrs hatte man erwartet, dass nun die Armee weiter nach Ostpreußen vorstoßen würde, aber die Offensive stand still. Als der erste Schnee fiel, befahl Feldmarschall Apraxin, alle Truppenbewegungen für die Dauer des Winters einzustellen.
»Er sagt, der Nachschub ist unterbrochen.« Iwan Schuwalows Stimme schwang sich empor zur Höhe großer Bühnenkunst. »Wie kann es einer siegreichen Armee an Nachschub fehlen?«
Ich erzählte alles Katharina. Wie die Gräfin Schuwalowa die Stirn runzelte, wenn Apraxins Berichte der Kaiserin vorgelesen wurden. Wie ihr Bruder geräuschvoll die Luft durch seine verfaulten Zähne einsog. »Wieso gewährt
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