Der Winterpalast
Lippen dünn verkniffen. Sie wirkte zerbrechlich und fiebrig.
Ich hoffte immer noch, dass die Kaiserin ihr erlauben würde, ihre Tochter in die Arme zu nehmen. Ich musste daran denken, wie glücklich ich gewesen war, als ich Darja zum ersten Mal an mich gedrückt hatte, dieses winzig kleine Wesen, das so ganz mir gehörte. Aber sobald das Baby gewickelt war, nahm es die Kaiserin an sich und trug es mit sich fort. Ihre gurrende Stimme, die auf das Kind einredete, verklang in der Entfernung. Sie wartete nicht einmal auf die Nachgeburt. Katharina war zu schwach, sie auszustoßen – die Hebamme musste mit der Hand nachhelfen.
Die Hofdamen folgten der Kaiserin.
Geh mit, Warenka , baten Katharinas Augen. Du musst mir berichten, was du gesehen hast.
Ich gehorchte.
Die Kaiserin nannte Katharinas und Stanislaws Tochter Anna, nach ihrer geliebten Schwester, Peters Mutter. Sie wollte das Baby im kaiserlichen Schlafzimmer immer bei sich haben, zumindest im ersten Monat.
Es war ein hektischer Tag. Liegen für die Ammen mussten vom Dachboden geholt, Möbel umgestellt werden, man musste den richtigen Platz für die Wiege finden, nicht zu nah am Kamin und vor Zugluft geschützt.
Besucher drängten sich im Vorzimmer, die das Kind sehen und die üblichen Komplimente und schmeichelnden Kommentare zum Besten geben wollten. »Wie schön … so ein feines Gesichtchen … ein Engelchen … ihrer Tante wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Elisabeth strahlte. Ihr Arm war noch bandagiert, aber sonst hatte der Ohnmachtsanfall keine Spur hinterlassen.
Niemand erwähnte die Großfürstin. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Katharina nicht allein war. Stanislaw würde ihr den Schweiß von der Stirn tupfen und sie in die Arme nehmen, wenn sie um ihr Kind weinte.
Die Weihnachtsfeierlichkeiten kamen mir in diesem Jahr besonders laut und prächtig vor. Feuerwerk strahlte am Dezemberhimmel, fröhliches Gelächter erfüllte den gleißend hell beleuchteten Saal, als die Kaiserin in ihrer Ansprache sagte, dies sei das erste Weihnachtsfest der kleinen Großfürstin und das letzte, das der Hof im Übergangspalast feiern müsse.
In unserem engen Wohnzimmer hängte Mascha einen Papierstern auf und schmückte die Lehnen der Stühle mit Fichtenzweigen. Darja zeichnete in das ledergebundene Skizzenbüchlein, das Katharina ihr geschenkt hatte, eine Krippe mit Maria und dem Kind, umgeben von den Hirten und Tieren.
Es war unser erstes Weihnachten nach Igors Tod. Ich dachte an Katharinas Kind, das niemals die Nähe seiner Eltern würde spüren dürfen, und an meine Tochter, die ohne Vater aufwachsen musste.
Im Grund ihrer Seele, sagte ich mir, kannte Elisabeth keine Regeln und keine Gesetze, sie folgte einzig und allein ihren Launen. Sie liebte dunkle Machenschaften und listige Täuschungsmanöver, denn darin lag ihre Macht. Solange sie herrschte, würden immer weiter Soldaten wie Igor sterben und immer weiter Kinder wie Darja und die kleine Anna um die Liebe ihrer Eltern betrogen werden.
Der Tod, dachte ich. Der Tod muss sie aus dem Weg schaffen und einer neuen Kaiserin eine Chance geben. Eine winzig kleine, nur ein dünner Riss, durch den etwas Licht dringen kann, aber die neue Herrscherin wird sie nutzen. Sie wird sich ihren Weg bahnen, und ich werde sie begleiten als ihre Helferin und Freundin.
Wenn sie Erfolg hatte, würden Darja und ich gewiss nicht leer ausgehen.
Einen Moment schien es vor mir auf: eine Welt ohne Bosheit und Betrug, ohne Angst. Eine neue Welt in der Wörter wie Buchbinderstochter und Dienstadel nicht mehr wie Fußfesseln unsere Schritte hemmten. Es war nur eine flüchtige Vision, aber mir war, als sähe ich die in Gold geprägten Rückentitel der Bücher in der Werkstatt meines Vaters strahlen.
Neun
1758
J eden Morgen besuchten Elisabeths Hofdamen Katharina.
Annas Wiege war aus uraltem Eichenholz geschnitzt, erzählten sie, ihre Kleidchen waren aus feinstem Batist. Wenn das Kindchen schrie, trug die Kaiserin es herum und murmelte Zärtlichkeiten. Mein Seelchen, mein Herzchen, meine Freude. Großartig wirst du angezogen sein, den kostbarsten Schmuck wirst du tragen. Schön wirst du sein und graziös. Der kaiserliche Favorit war immer an ihrer Seite, gleichermaßen hingerissen von der Tante und ihrer Großnichte.
»Ein wahrer kleiner Engel«, hauchten sie.
»Falsche Schlange«, sagte Katharina. »Schickt ihre Edeldamen her, damit sie spionieren.«
Bis Januar hatte sie ihre Tochter nur dreimal gesehen,
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