Der Winterpalast
worden. Wir können nicht länger warten.« Alexejs Stimme klang angespannt.
Katharina bekreuzigte sich und verneigte sich vor der Ikone. Einundzwanzig Jahre zuvor hatte Elisabeth in einer ganz ähnlichen Situation das Gelübde abgelegt, nie jemanden hinrichten zu lassen, falls sie Kaiserin von Russland würde.
Falls Katharina in jener Nacht in Monplaisir auch ein Gelübde tat, so hat sie es mir verschwiegen. Sie schickte ihre Zofen zu Bett und trank noch einen Schluck Wasser, bevor sie zur Kutsche eilte. Sie mussten schnell weg, bevor jemand Verdacht schöpfte.
Koslow, ihr Coiffeur, stieg mit ein, um Katharina während der Fahrt nach Sankt Petersburg zu frisieren. Auf halber Strecke wartete Grigori mit frischen Pferden. Sie wurden eingespannt, dann ging es in rasender Fahrt weiter zur Kaserne der Garderegimenter.
Alexej und Grigori hatten ihren Teil getan. Als Katharina frühmorgens in der Kaserne ankam, standen die Garden schon bereit.
Sie stieg aus und trat vor die Reihen der Soldaten. Ihr feierliches Trauergewand signalisierte, dass sie, anders als ihr Mann, das Andenken der verstorbenen Kaiserin in Ehren halten wollte. Ihre Stimme klang fest und entschlossen, ihre Miene war ernst und beherrscht.
»Der Kaiser«, sagte sie, »hört auf die Feinde Russlands. Er hat den Befehl gegeben, mich zu verhaften. Ich fürchte, er will mich und meinen einzigen Sohn umbringen lassen.«
Zorniges Geschrei erhob sich. Katharina wartete geduldig, bis es verebbte, bevor sie weitersprach.
»Der Kaiser verweigert mir und meinem Sohn unseren rechtmäßigen Platz an seiner Seite. Ihr, die besten Söhne Russlands, wisst, was unser geliebtes Vaterland braucht. Ich bin gekommen, um mich unter euren Schutz zu stellen. Ich lege mein Schicksal in eure Hände.«
In ihrer Stimme klang sowohl die Autorität einer Herrscherin als auch das Flehen einer Frau.
Stürmischer Beifall brach los, die Soldaten jubelten ihr zu. »Niemand wird Sie antasten«, schrie einer. »Nicht, solange wir leben.«
Als die ersten Hochrufe ertönten, wusste Katharina, dass sie gewonnen hatte. Strahlend und stolz aufgereckt stand sie da, während die Regimenter Ismailowski, Semjonowski und Preobraschenski ihr Treue schworen. Soldaten küssten ihre Hände und den Saum ihres Trauergewands, der noch staubig war von der Reise. Sie fielen vor ihren Füßen nieder, zitternd wie Quecksilber auf der Handfläche eines Kindes, und nannten sie matuschka , ihr Mütterchen, ihre Kaiserin.
Sie knieten vor ihr, die Gesichter erhitzt, die Augen unverwandt auf sie gerichtet, als wäre sie die einzige Hoffnung Russlands.
»Überall tosender Jubel, wo sich die Nachricht verbreitet, Warwara Nikolajewna«, sagte Graf Panin, als er gegen Mittag nach Oranienbaum kam, um uns nach Sankt Petersburg zu bringen.
Man sieht, was man sehen will , dachte ich. Man glaubt, was man glauben will.
Graf Panins Stimme klang gehetzt. Wir mussten uns beeilen, bevor die Nachricht von dem Staatsstreich Oranienbaum erreichte. Es war schon ein Uhr, und wir würden mindestens sechs Stunden brauchen, bis wir in Sankt Petersburg waren.
Ich bekreuzigte mich.
Es ist wahr geworden.
Katharina ist in Sicherheit , dachte ich. Ihr Sohn ist in Sicherheit. Wir alle sind in Sicherheit.
Ich trat ans Fenster. Der Springbrunnen im Garten war gerade angestellt worden. Die Sonne webte Regenbogenfarben in das sprühende Wasser. Auf einer Steinbank saßen Musiker und spielten ein festliches Stück. Aus einem offenen Fenster von Peters Suite drang schrilles Gelächter – offenbar hatte das Fräulein ihrem Liebhaber gerade noch ein Namenstagsgeschenk überreicht. Einen Moment lang erschien Peter am Fenster, eine undeutliche Gestalt, die jemandem zuwinkte.
Der Kaiser von Russland wusste noch nicht, dass er abgesetzt worden war.
Er wird als Privatmann glücklicher sein , dachte ich. Wenn er sich erst einmal daran gewöhnt hat, wird es ihm im Exil gefallen.
Ich hörte Hufgetrappel. Die Kutschen, die den Kaiser nach Peterhof bringen sollten, fuhren vor. Eine Möwe schrie.
»Gehen wir jetzt zu meinem Papa?«, fragte Paul ein bisschen ängstlich, als das Kindermädchen ihn hereinführte. Einer seiner Lehrer hatte am Vormittag ein Gedicht mit ihm eingeübt, das er beim Fest aufsagen sollte, und er konnte es noch nicht so richtig flüssig.
»Nein, Hoheit«, antwortete ich, »wir machen einen Ausflug.«
»Ist es eine Überraschung?« Seine Augen wurden groß vor freudiger Erwartung.
»Ja«, sagte Graf Panin, »Sie
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