Der Wolf
töten.
Auch ein zweiter Welpe machte denselben Fehler, konnte
sich aber gerade noch zurückziehen und verlor so nur einen
kleinen Teil seiner Nase. Er hieß fortan »Näschen«. Auch
Wölfchen, der dritte Welpe, wurde am Zaun von Anselm
gebissen und verlor dabei mehrere Zähne ; dem einzigen
Weibchen des Wurfes, »Mädchen«, biß Anselm schließlich
noch einen Zeh ab.
Die Welpen konnten nicht immer in unserem Haus bleiben, und daher mußte Anselm weg. Bei dem Versuch, ihn
einzufangen, habe ich einen meiner größten Fehler im Laufe
der Arbeit mit Wölfen gemacht. Wir hatten keine Fangeinrichtung im Gehege. Also mußte ich Anselm irgendwie betäuben, um an ihn heranzukommen. Im Institut hatten wir noch kein Betäubungsgewehr. So blieb nur übrig,
Anselm irgend etwas ins Futter zu mischen. Der Kieler
Tierarzt, der das Institut mitbetreute, kannte kein orales
Betäubungsmittel für Hunde. (Ein befriedigendes Betäubungsmittel für Hunde und Wölfe, das man etwa ins Futter oder ins Trinkwasser träufeln kann, gibt es tatsächlich
nicht.) Er schlug daher Valium vor, zwei Tabletten von je
zehn Milligramm. Ich versteckte die Tabletten in einem
Stück Fleisch, warf den anderen drei Wölfen im Gehege
je ein totes Huhn zu und Anselm das präparierte Futterstück, das er sofort verschlang.
Ich wartete eine Stunde, zwei, drei Stunden ; nichts passierte. Anselm war so frisch und munter wie immer. So warf
ich ihm noch ein Futterstück, wieder mit zwei Tabletten,
zu, und als sich nach weiteren drei Stunden immer noch
keine Ermüdungserscheinungen zeigten, abermals eines
mit zwei Tabletten. Inzwischen war es später Nachmittag
geworden. Als ich jetzt zum wiederholten Male ins Gehege
ging, zeigte Anselm sich etwas träge beim Aufstehen. Aber
einfangen – daran war nicht zu denken. Ich rannte ihm
hinterher, aber er war viel zu schnell. Verflucht, dachte
ich, mit sechs Tabletten muß er doch mal untenbleiben,
und rannte weiter. Es waren vielleicht zehn Minuten, die
ich ihn so im Gehege herumjagte ; dann wurde er langsam schwächer, und ich erwischte ihn. Völlig hilflos und
schwer atmend ließ er sich in unseren VW tragen. Dagmar fuhr, und ich blieb bei ihm für den Fall, daß er wieder aufstehen sollte. Aber Anselm stand nicht mehr auf,
nie mehr. Drei Tage später starb er in Kiel an den Folgen
eines Kreislaufkollapses.
Rangordnung bei den Welpen
Wie bei allen Welpen kam es auch zwischen Alexander,
Wölfchen, Näschen und Mädchen in den ersten Wochen
und Monaten häufig zu heftigen Streitereien. Beim Spiel
wurde geknurrt und gebissen, und im Zusammenhang mit
dem Futter entbrannten manchmal kleine Kämpfe. Nicht
immer ging es dabei Welpe gegen Welpe, sondern manchmal fielen zwei oder sogar drei über den vierten her. Trotzdem konnten sie Minuten später ganz friedlich, auf einen
Haufen zusammengedrängt, schlafen. Und beim nächsten
Streit hatten sich drei neue Freunde gefunden. Irgendwelche Feindschaften oder traditionelle, die Kämpfe bereits
vorentscheidende Kräfteverhältnisse ergaben sich aus diesen Streitigkeiten nicht. Auch das Geschlecht spielte gar
keine Rolle. Mädchen mußte sich gegenüber ihren Brüdern voll und ganz durchsetzen, manchmal durch Angriffe,
manchmal durch beschwichtigendes Auf-den-Rücken-Fallen. Aus dem momentanen Ausdrucksverhalten zweier
kämpfender Welpen resultierte auch keine Dauerhaltung.
Es war stets nur Ausdruck der augenblicklichen Kräfte
Kampf um Futter (links Näschen,
verhältnisse und konnte Minuten später, in einer neuen
Situation, völlig anders sein.
Dies alles unterscheidet das aggressive Verhalten der Welpen ganz wesentlich von dem der älteren Wölfe. Es scheint,
daß es den Welpen bei ihren Auseinandersetzungen nur
um augenblickliche Interessenkonflikte geht und nicht um
irgendwelche Statusfragen. Sie versuchen, ihre Geschwister nicht längerfristig zu unterdrücken, und haben entsprechend auch keine Expansionstendenz, um den eigenen Freiheitsraum auf Kosten der anderen zu erweitern –
außer natürlich für den augenblicklichen Bedarf.
Aus diesen Beobachtungen schloß ich, daß zwischen Wolfswelpen in der Regel noch keine Rangordnung besteht. Diese
Feststellung habe ich in den folgenden Jahren auch nicht
revidieren müssen. Sie steht aber im Widerspruch zu den
Beobachtungen anderer Autoren sowohl an Wolfs- wie an
Hundewelpen.
Scott und Fuller testeten die Rangbeziehungen zwischen
Wurfgeschwistern verschiedener Hunderassen mit Hilfe
eines Knochens. Dieser wurde
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