Der Wolfsthron: Roman
ab. Einer von ihnen kniete sich hin und durchsuchte die Frauen mit geschickten Fingern. Er fand drei Messer und ein kleines, gerahmtes Bild, das er, nachdem er es gemustert hatte, ohne ein Wort an Raisa weitergab.
Es war das Porträt von ihr, das für ihren Namenstag angefertigt worden war.
Byrne stieß etwas mit dem Fuß an, das neben den beiden Leichen lag, bückte sich dann und hob es mit zwei Fingern auf.
Es war ein Dolch, filigran und weiblich gearbeitet und von tödlicher Schärfe.
KAPITEL ZWEI
Alte Kamellen
A uf der Straße nach Fetterford war viel mehr los, als Han Alister erwartet hatte. Ein Strom hohläugiger Flüchtlinge zog sich nach Norden, während Gerard Montaignes Armee im Süden das Land versengte. Die Flüchtlinge wirkten wie verhext, und manche von ihnen – die von der Katastrophe völlig überrascht worden waren – trugen immer noch die feine, aber mittlerweile zerschlissene Kleidung der Blaublütigen.
Han hatte den Eindruck, als wäre ganz Tamron auf den Beinen – die Landbewohner suchten Zuflucht in den Städten, während die Städter aufs Land flohen. Wie groß mochte da wohl die Wahrscheinlichkeit sein, dass er in all dem Chaos ein ganz bestimmtes Mädchen fand, das allein oder mit zwei Magiern reiste?
Die Straße folgte dem Tamron nördlich von Odenford. Östlich des Flusses befanden sich Arden und die dichten Laubwälder von Tamron; im Westen lagen Tamrons sonst so fruchtbaren Felder, die jetzt von kämpfenden Soldaten zertrampelt wurden. Rauchfahnen kräuselten sich über verkohlten Bauernhöfen und Herrenhäusern.
Die Schwertschwinger schienen gern etwas abzufackeln.
Tamron mochte zwar die Kornkammer der Sieben Reiche sein, aber im Augenblick war es oft nicht einmal mit viel Geld möglich, irgendwo etwas zu essen aufzutreiben. Kleine Dörfer, einen Tagesritt voneinander entfernt, säumten die Straße wie Knoten eine ausgefranste Schnur. Jedes einzelne Dorf schützte sich mithilfe einer bunt zusammengewürfelten Bürgerwehr aus Einheimischen, die sich mit Mistgabeln, Stöcken und Langbogen bewaffnet hatten und fest entschlossen waren, die räuberischen Horden, die sie zu überrennen drohten, in die Flucht zu schlagen – mochten sie nun aus Soldaten oder anderen Bürgern bestehen.
Glücklicherweise war der Hunger für Han nichts Neues.
In jedem Dorf gab es mindestens eine Schenke, und in jeder stellte Han die gleiche Frage. »Habt Ihr hier ein Mädchen durchkommen gesehen, ein Halbblut mit grünen Augen und dunkler Haut? Sie ist klein, etwa so groß.« Woraufhin er seine Hand auf Schulterhöhe hob. »Ihr Name ist Rebecca Morley. Möglicherweise reist sie zusammen mit zwei Amulettschwingern … Bruder und Schwester. An die würdet Ihr Euch erinnern – sie sind beide groß, die Schwester hat weißblonde Haare und blaue Augen, und der Bruder hat dunkle Haare und dunkle Augen.«
Manche von denen, die er befragte, versuchten sich als Witzbolde. »Na, ist dir dein Mädel weggelaufen?« Die meisten allerdings schienen die richtigen Schlüsse aus Han’s Miene zu ziehen, oder aus dem Amulett, das um seinen Hals hing, oder aus seinem Äußeren, das in diesen hoffnungslosen Zeiten ziemlich mitgenommen von der Reise war.
In Zeiten des Krieges gab es keinen Grund, über vermisste Mädchen zu lachen.
Der Tod war überall. Leichen baumelten wie grausige Früchte von den Bäumen, drehten sich langsam im leichten Südwind. Die Schlachtfelder waren von toten Soldaten übersät, an denen sich die Aasvögel gütlich taten. Fliegenschwärme erhoben sich in Schwaden von den Tierkadavern entlang der Straße, und viele Wasserläufe waren von Leichen verunreinigt.
An den meisten Tagen, an denen Han unterwegs war, hatte er den Verwesungsgestank in der Nase. War es wirklich erst ein Jahr her, dass er zusammen mit Dancer auf dem Weg nach Odenford durch Arden geritten war?
Dieses Gift, das Tamron befallen hatte, drohte auch die Fells zu überschwemmen.
Du solltest dich da raushalten, Alister, sagte Han zu sich selbst. Du hast auch so schon genügend Kämpfe vor dir.
Ein Schenkenwirt glaubte, sich an ein Mädchen erinnern zu können, auf das Rebeccas Beschreibung passte und das allein auf einem grauen, viel zu großen Flatland-Hengst unterwegs war. Ein magerer Hinweis, bestenfalls.
Han konnte nur hoffen, dass Rebecca unbehelligt durchgekommen war und dass die Gerüchte nicht stimmten, laut denen Rebecca Gerards Invasionstruppen in die Quere gekommen war.
Vielleicht war sie unterwegs irgendwo
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