Der Wolfsthron: Roman
du nie für die Bayars gearbeitet?«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Meine Familie ist ziemlich wohlhabend, auch wenn ich keinen direkten Zugang zu dem Geld habe.« Sie machte eine Pause. »Oder zumindest nicht hatte«, fügte sie hinzu, mehr zu sich selbst als zu seiner Information.
Also war sie mehr als nur eine höherrangige Bedienstete. Sie war eine waschechte goldgesäumte Lady, die sich in Ragmarket herumtrieb? Wollte sie das damit sagen?
Han’s Magen zog sich zu einer dunklen Vorahnung zusammen. Er hatte so seine Erfahrungen mit goldgesäumten Ladys – und mit dem, was sie von ihm erwarteten.
»Als du mich aus dem Tempel entführt hast, wollte ich nicht, dass du weißt, wer ich wirklich bin«, sprach sie weiter. »Also habe ich die Täuschung aufrechterhalten. Ich kannte dich nicht – aber nach allem, was ich gehört hatte, warst du ein Dieb und ein erbarmungsloser Mörder.«
Sie machte eine Pause, und Han fragte sich, ob sie gerade an die acht Blaujacken dachte, die er eben erst erledigt hatte.
»Ich hatte nie Gelegenheit, dir die Wahrheit zu sagen, nicht einmal, nachdem ich in das Wachhaus von Southbridge gegangen bin, um mich um die Ragger zu kümmern. Ich wollte nicht, dass irgendjemand das, was passiert ist, mit mir in Verbindung bringt. Wie auch immer, ich hatte auch nicht erwartet, dich wiederzusehen.« Rebecca sah auf ihre Hände hinunter.
Es war ein eigenartiges Gespräch. Gefühle knisterten in der Luft, sehr viel intensiver, als angemessen gewesen wäre. Und Rebecca kniete praktisch vor einem ehemaligen Straßendieb, um sich bei ihm dafür zu entschuldigen, dass sie gelogen hatte, was ihr bisschen Reichtum – oder sogar ihren großen Reichtum – betraf.
»Nun«, warf Han vorsichtig ein, »ich vermute, dass ich eigentlich immer schon gewusst habe, dass du ein Blaublut bist. Für jemanden wie mich sind das fast alle.«
Doch seit Rebecca angefangen hatte, ihre Geschichte zu erzählen, schien sie wild entschlossen, sie auch zu Ende zu bringen. »Ich bin nach Odenford gegangen, weil ich vor einer aufgezwungenen Hochzeit weggelaufen bin, und ich wollte nicht, dass meine Mutter mich findet. Rebecca Morley hatte mir schon vorher gute Dienste geleistet, und deshalb habe ich den Namen weiterhin benutzt.«
Han’s Nacken und Schultern prickelten. Das kam ihm irgendwie bekannt vor. Wo hatte er eine solche Geschichte nur schon mal gehört – über eine Blaublütige, die vor einer Heirat weggelaufen war?
»Und vor wem genau bist du weggelaufen?«, fragte Han, und sein Mund war jetzt trockener als je zuvor. »Warum haben diese Blaujacken versucht, dich zu töten? Wenn du nicht Rebecca Morley bist, wer bist du dann?«
Sie beugte sich vor, packte seine rechte Hand und sah ihm in die Augen. »Ich bin vor der Hochzeit mit Micah Bayar weggelaufen«, sagte sie. »Meine Mutter, die Königin, hat darauf bestanden.« Sie drehte seine Handfläche herum und legte eine Münze hinein.
Er warf einen Blick darauf – es war ein Girlie, und das vertraute Porträt im Profil glitzerte im Lichtschein. Er sah Rebecca an, sah wieder auf die Münze, und die Löcher in seinem Gehirn füllten sich. Wieso hatte er das bisher nicht bemerkt?
Es war, als hätte sie ihm in kleinen Dosen ein Gift serviert, damit ihm das Schlucken leichter fiel.
»Mein wirklicher Name ist Raisa«, sagte sie. »Raisa ana’Marianna, zukünftige Königin der Fells.«
KAPITEL FÜNFZEHN
Der Preis der Täuschung
D ie Zeit, so kam es Raisa vor, verging im Schneckentempo. Han starrte auf die Münze hinunter und sah dann Raisa wieder an, zeichnete mit seinem Zeigefinger ihr Profil nach und schüttelte den Kopf.
Raisa schloss ihre Hände um seine und drückte sie, während sie den Atem anhielt. Sie wusste nicht, welche Reaktion sie zu erwarten hatte – Ärger, Abscheu, kalte Verachtung, Enttäuschung, Empörung. Er hatte nur zu oft klargestellt, was er von Königinnen und ihresgleichen hielt.
Dann hob er den Blick und schaute sie mit seinen blauen Augen direkt an, und sie sah die Antwort darin. Verrat. In seinen Augen stand das Gefühl von Verrat und Verlust. Es kostete sie große Mühe, nicht wegzusehen, aber sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. Das schuldete sie ihm.
Han entzog ihr sanft seine Hände und lehnte sich zurück. Er schloss die Augen. »Nein«, sagte er und verschränkte die Finger über seinem Bauch. »Das ist nicht wahr. Es ist unmöglich.« Seine Stimme zitterte leicht.
»Es tut mir leid«, sagte Raisa. »Es tut mir
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