Der Wolkenatlas (German Edition)

‹Frau Rhee.›
Die durch Elixia-Präparate perfekt verjüngte Frau sah auf, und ihre frisch designten, sinnlichen Lippen verzogen sich zu einem verblüfften Lächeln. ‹Ich war Frau Rhee, jetzt bin ich Frau Ahn. Mein verstorbener Mann ertrank letztes Jahr bei einem Bootsunfall.›
‹Oh›, sagte ich. ‹Das ist ja furchtbar.›
Ob ich mit ihrem verstorbenen Mann gut bekannt gewesen sei, erkundigte sich Frau Ahn.
Lügen ist schwieriger, als die Reinblüter es vermuten lassen.
Frau Ahn wiederholte ihre Frage.
‹Meine Frau war vor unserer Hochzeit als Qualitätsnormiererin für den Konzern tätig›, erklärte Hae-Joo rasch und fügte hinzu, dass Chongmyo Plaza zu meinem Bezirk gehört hatte und Seher Rhee ein vorbildlicher Konzernler gewesen war.
Frau Ahn schöpfte Verdacht. Sie wollte genau wissen, wann ich unter ihrem verstorbenen Mann gearbeitet hatte.
Auf einmal wusste ich, was ich zu sagen hatte. ‹Als ein Konsument names Cho sein Assistent war.›
Ihr Lächeln blieb fest, doch es veränderte seinen Ausdruck. ‹Ach, ja, Assistent Cho wurde irgendwo in den Norden geschickt, zum Teamgeist-Lernen.›
Hae-Joo nahm meinen Arm und sagte: ‹Tja, Alle für Papa Song, Papa Song für alle. Die Gallerias rufen, Liebling. Du siehst doch, Frau Ahn ist eine Frau, die ungern Zeit verschwendet.› Wir wünschten einander Glück.
Als wir wieder in meiner Wohnung waren, machte mir Hae-Joo ein Kompliment: ‹Wenn ich in nur zwölf Monaten von einer Bedienerin zum Wunderkind aufgestiegen wäre, würde ich jetzt nicht in der Gästewohnung der Eintracht-Fakultät wohnen, sondern irgendwo mitten in Wolkenkuckucksheim. Du sagst, du bist ‹niedergeschlagen› – aber alles, was ich sehe, ist Entschlossenheit. Du darfst dich ruhig beschissen und wie auf den Kopf gestellt fühlen. Das heißt nicht, du bist fehlerhaft – das heißt, du bist ein menschliches Wesen.›
Wir spielten bis zur Ausgangssperre Go. Hae-Joo gewann die erste Partie, ich die zweite.
     
    Wie viele solcher Ausflüge gab es?
An jedem Neunten Abend bis zum Tag der Konzernokratie. Je vertrauter Hae-Joo mir wurde, desto mehr schätzte ich ihn, bis ich die hohe Meinung, die Professor Mephi von ihm hatte, schließlich teilte. Im Seminar erwähnte der Professor unsere Ausflüge mit keinem Wort; möglich, dass sein Protegé ihm schriftlich Bericht erstattete, vor allem aber wollte er mir das Gefühl geben, eine Privatsphäre zu haben. Die Vorstandsarbeit forderte mehr von seiner Zeit, und ich sah ihn weniger regelmäßig. Die morgendlichen Tests bei den freundlichen, aber wenig beeindruckenden Wissenschaftlern liefen weiter.
Hae-Joos Vorliebe für Universitätsintrigen waren aufschlussreich. Ich erfuhr, dass Taemosan kein geschlossener Organismus war, sondern, ähnlich wie die Juche, ein Tummelplatz für verfeindete Stämme und Interessengruppen. Die Eintracht-Fakultät wahrte ihre allseits verachtete Vormachtsstellung. ‹Geheimnisse sind Wunderwaffen›, zitierte Hae-Joo seinen Professor. Diese Vormachtsstellung erklärte jedoch auch, warum die Vollstreckungsstudenten außerhalb der Fakultät so wenige Freunde hatten. Mädchen, die auf der Suche nach einem Ehemann waren, sagte Hae-Joo, fühlten sich zwar wegen seiner künftigen Stellung zu ihm hingezogen, die Männer in seinem Alter aber hüteten sich davor, sich in seinem Beisein zu betrinken.
Archivar, die Zeit läuft uns davon. Können wir gleich zu meinem letzten Abend auf dem Campus übergehen?
     
    Wie du möchtest.
Hae-Joo war ein leidenschaftlicher Disney-Fan, und eines seiner Privilegien als Student von Professor Mephi war der Zugang zu verbotenem Material in den Sicherheitsarchiven.
     
    Du meinst Unions-Samisdat aus den Produktionszonen?
Nein. Ich spreche von einer Zone, die noch verbotener ist: die Vergangenheit. Disneys aus der Zeit vor der großen Befriedung. Damals hießen sie ‹Filme›. Hae-Joo sagte, diese alte Kunst sei durch 3D und die Konzernokratie in Vergessenheit geraten. Ich musste seinen Worten Glauben schenken: Die einzigen Disneys, die ich kannte, waren Boom-Sooks Splatterpornos. Am Letzen Abend von Monat Neun tauchte Hae-Joo bei mir auf und wedelte mit dem Schlüssel zu einem Vorführraum; er hatte ihn von einem Medienstudenten, der ihm noch einen Gefallen schuldete. Hae-Joo flüsterte verschwörerisch: ‹Ich habe eine Disc von einem der absolut besten Filme aller Zeiten.›
     
    Nämlich?
Das grausame Martyrium des Timothy Cavendish , eine Schelmengeschichte, die vor der Gründung von