Der Wolkenatlas (German Edition)
Zufahrtsstraßen im Norden und Osten verstopft waren. Der Zubringer jedoch war noch frei; wahrscheinlich würden ihre Leute dort auf uns warten.
Hae-Joo befahl ihm, den Zubringer zu nehmen. Dann zog er ein Schnappmesser aus der Gürteltasche, schnitt sich die Kuppe des linken Zeigefingers ab und pulte mit der Messerspitze ein winziges metallenes Ei aus der Wunde. Er warf es aus dem Fenster und befahl mir, mit dem Seelenring dasselbe zu tun. Auch Xi-Li schnitt sich seine Seele heraus.
Unionler schneiden sich tatsächlich ihre juchegegebenen ewigen Seelen heraus?
Wie könnte sich eine Widerstandsbewegung sonst der Eintracht entziehen? Andernfalls müssten sie an jeder Ampel damit rechnen, entdeckt zu werden. Herr Chang fuhr um eine Rampe herum; die Scheiben zerbarsten in einem Gewitter aus Phosphatblitzen; Metall ächzte; der Ford schrammte an einer Mauer entlang und kam abrupt zum Stehen.
Ich duckte mich und hörte weitere Schüsse.
Mit einem Ruck fuhr der Ford wieder an; ein Körper schlug gegen das Fahrzeug. Irgendjemand stieß ein furchtbares Geheul aus: Es war Xi-Li. Hae-Joo hielt einen Handcolt an Xi-Lis Schläfe und drückte ab.
Wie bitte? Warum?
Wie ich später erfuhr, enthalten die Dumdums der Eintracht ein Gemisch aus Kalodoxalin und Giga-Stimulin. Ersteres ist ein Gift, das die Opfer so entsetzlich verbrennt, dass sie sich durch ihre Schmerzensschreie verraten; das Zweite verhindert, dass sie das Bewusstsein verlieren. Xi-Li sackte in sich zusammen. Hae-Joo senkte den Colt. Von dem fröhlichen Doktoranden, den ich kannte, war nichts geblieben; ich fragte mich, ob es ihn je gegeben hatte.
Wind und Regen peitschten durch die kaputten Fensterscheiben. Herr Chang fuhr durch eine enge Müllgasse, riss Abflussrohre mit sich und steuerte auf die Ringstraße zu. Am Campustor blinkten rote und blaue Lichter. Ein Aero im Tiefflug rasierte die Baumwipfel, über Lautsprecher wurden gebieterisch unverständliche Befehle erteilt. Herr Chang rief: ‹Festhalten›, ließ den Motor absaufen und riss das Steuer herum. Der Ford machte einen Satz; mein Kopf schlug gegen das Dach; Hae-Joo gelang es irgendwie, sich schützend über mich zu legen. Der Ford wurde schneller, schwerer und schwereloser.
Der Sturz ist mir im Gedächtnis geblieben: Er weckte eine Erinnerung an Finsternis, Trägheit, Schwerkraft und das Eingesperrtsein in einem anderen Ford, aber ich konnte sie nicht zuordnen.
Bambus splitterte, Metall knautschte, ich schlug auf dem Boden auf, prellte mir die Rippen. Alles verschwamm in Chaos und Lärm.
Der Ford stand still. Ich hörte Insektenzirpen und Regen, der auf Blätter fiel, dann aufgeregtes Flüstern. Ich lag unter Hae-Joo, der sich stöhnend regte. Eine Taschenlampe leuchtete mir in die Augen; ihr Besitzer fragte, ob jemand bei Bewusstsein sei. Herr Chang bat ihn, die Tür zu öffnen.
Kurz darauf wurden Hae-Joo, Herr Chang und ich aus dem Fordwrack gezogen; ich hatte ein paar Quetschungen, aber gebrochen war nichts. Xi-Lis Leiche wurde liegen gelassen. Besorgte Gesichter, entschlossene Gesichter, übermüdete Gesichter: Unionler. Ich wurde in einen Schacht hinuntergelassen. Meine Hände bekamen Sprossen zu fassen, meine Knie schabten über den Boden eines kurzen Tunnels. Viele Arme zogen mich hinauf in einen Raum, den ich als Fordwerkstatt identifizierte. Man setzte mich in einen schnittigen Xec-Sportford. Befehle wurden erteilt, Boten entsandt. Die Fahrertür ging auf, Hae-Joo Im stieg ein und ließ den Motor an. Das Werkstatttor sprang auf.
Wir fuhren über kleine Vorortstraßen und gelangten auf eine verstopfte Hauptverkehrsader. In den anderen Fords saßen einsame Pendler, verliebte Pärchen, Kleinfamilien; manche nahmen den Stau gelassen hin, andere tobten. Mir fiel auf, dass Herr Chang wieder einmal verschwunden war, ohne sich zu verabschieden. Schließlich brach Hae-Joo das Schweigen; Erschütterung lag in seiner Stimme. Falls er jemals von einem Dumdum getroffen werde, sagte er, sollte ich ihn ebenso schnell nach Euthanasium bringen, wie er es mit Xi-Li getan hatte. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
Der Unionler bat mich um etwas Geduld; je weniger ich wusste im Fall unserer Festnahme, desto besser. Wir hätten eine anstrengende Nacht vor uns, fügte er hinzu. Unser erstes Ziel war Huamdonggil. Sind Sie schon einmal in dieser Zone gewesen, Archivar?
Nein. Mein Ministerium würde mich sofort entlassen, wenn das Auge mich in einem Untermenschen-Slum entdeckte. Was hast du
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