Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
Vom Netzwerk:
hatte Angst, ich könnte sterben.« Sano erinnerte sich, wie er im Bett lag, nach Atem ringend und von Kälteschauern geschüttelt. Über die tiefe Kluft der Zeit hinweg hörte er seine Mutter weinen, während sein Vater zu ihr sagte, sie könnten sich keinen Arzt und keine Medizin leisten. »Deshalb hat meine Mutter mich hierher gebracht«, sagte Sano. »Sie hat Euch um Hilfe gebeten.«
    »Ihr ... Ihr könnt Euch daran erinnern?« In Major Kumazawas Stimme lag Bestürzung.
    »Ja. Und ich weiß auch noch, dass Ihr zu ihr gesagt habt, sie hätte es verdient, wegen mir zu leiden. Ihr habt gesagt: Jeder muss die Konsequenzen für sein Handeln tragen.‹« Zorn erfasste Sano. »Und dann habt Ihr uns abgewiesen!«
    Major Kumazawa war wie vom Donner gerührt. »Ich dachte, Ihr hättet es vergessen.«
    »Das wäre Euch lieber, das kann ich mir vorstellen«, sagte Sano.
    »Ich habe immer bedauert, was ich damals getan habe«, sagte Kumazawa, dem offensichtlich bewusst war, wie folgenschwer die unterlassene Hilfeleistung gegenüber seiner verstoßenen Schwester und deren kleinem Sohn für ihn sein konnte. Obwohl der Vorfall sich vor vielen Jahren zugetragen hatte, war es wie ein Schlag ins Gesicht für Sano, den Kammerherrn und Stellvertreter des Shōgun, und damit ein Vergehen, das eine Strafe nach sich ziehen konnte, deren Schwere in Sanos Ermessen lag.
    »Ich hätte Etsuko helfen sollen, ich weiß«, sagte Kumazawa. »Und Ihr wart damals ein unschuldiges Kind, das niemandem etwas zuleide getan hatte. Ich bitte Euch um Vergebung.«
    »Dafür ist es ein bisschen spät«, erwiderte Sano.
    »Damals war es richtig, was ich getan habe«, wehrte sich der Major. »Meine Eltern lebten noch. Sie hatten mir untersagt, Etsuko auf irgendeine Weise zu helfen. Ich musste ihren Wunsch respektieren.«
    Sano musterte Kumazawa mit verächtlichem Blick. »Ihr versucht immer wieder, Euch herauszureden, indem Ihr andere für Euer Tun verantwortlich macht. Dieser Charakterzug ist schlimmer Starrsinn und Dickköpfigkeit. Und vieles von dem, was Ihr für Euch selbst so selbstverständlich in Anspruch nehmt, gesteht Ihr anderen Menschen nicht zu. Als meine Mutter Euch damals gebeten hat, Ihr Kind zu retten, habt Ihr ihr diese Bitte abgeschlagen. Aber als Eure eigene Tochter entführt wurde, seid Ihr mit der Bitte um Hilfe zu mir gekommen. Und ich habe Euch nicht zurückgewiesen.«
    Und er hätte es fast bedauert, wenn es nicht um Chiyo gegangen wäre. Chiyo war in gewisser Weise ein unschuldiges Kind, so wie er selbst es vor vielen Jahren gewesen war.
    »Dann seid Ihr ein besserer Mann als ich«, sagte Major Kumazawa, doch sein empörter Tonfall strafte seine Worte Lügen. »Dann habe ich es erst recht nicht verdient, dass Ihr weitere Nachforschungen über die Entführung meiner Tochter anstellt. Deshalb bitte ich Euch noch einmal, die Ermittlungen einzustellen.«
    »Das geht nicht«, sagte Sano. »Die Gründe dafür habe ich Euch genannt.«
    Die Feindseligkeit zwischen den beiden Männern verdichtete sich, wurde feucht und schwer wie die Abendluft, heiß und erstickend wie Rauch. »Dann sehe ich keinen Sinn mehr darin, unser Gespräch fortzusetzen«, sagte Major Kumazawa schließlich. »Verlasst mein Anwesen! Und vergesst nicht, Eure Frau mitzunehmen!«
    Der Hinauswurf versetzte Sano einen Stich, obwohl er diesen Ort so schnell wie möglich verlassen und nie wiederkehren wollte. Als er zum Haus ging, um Reiko zu holen, hörte er, wie Kumazawa ihm nachrief: »Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass mein Klan den Bann über Etsuko und Eure Familie aufhebt. Von nun an wird es keine Verbindung mehr zwischen uns geben!«
    »Das soll mir nur recht sein«, sagte Sano.

34.

    Der Morgen dämmerte, und der Himmel im Osten leuchtete in pastellenem Rosa und in schimmerndem Silber, als Sano neben Reikos Sänfte über die Fernstraße in Richtung Edo ritt. Die Ermittler Marume und Fukida ritten voraus, während Sanos Begleitsoldaten die Nachhut bildeten. Trotz der frühen Stunde herrschte bereits reger Verkehr in beiden Richtungen: Pilger waren zum Asakusa-Tempel unterwegs, um dort zu beten; Scharen von Lastenträgern und fliegenden Händlern zogen in Richtung Stadt, und zwischen ihnen ritten patrouillierende Tokugawa-Soldaten. Gruppen von Nonnen und Priestern waren ebenfalls nach Edo unterwegs, um dort um Almosen zu betteln. Eta schleppten stinkende, von Fliegen umschwärmte Jauchefässer, die in einem schier endlosen Strom herangekarrt wurden, auf die

Weitere Kostenlose Bücher