Der Wolkenpavillon
müssen.«
»Dann reise ich gleich morgen«, erklärte Reiko.
»Gut. Aber ich brauche noch weitere Hilfe«, sagte Sano. »Deshalb habe ich nach Hirata schicken lassen.« Auf dem Flur waren die Schritte eines Hinkenden zu vernehmen, denn der eine Fuß setzte lauter auf als der andere. »Ah, da kommt er ja.«
Einen Augenblick später betrat Hirata das Gemach, der sōsakan-sama des Shōgun - der höchst ehrenwerte Ermittler von Ereignissen, Gegebenheiten und Personen. Hirata hatte dieses Amt sieben Jahre zuvor von Sano übernommen, als der zum Kammerherrn des Shōgun ernannt worden war. Außerdem war Hirata der oberste Gefolgsmann Sanos und dessen bester Freund, obwohl ihre jeweiligen Ämter eine allzu große Vertraulichkeit untersagten.
»Ich grüße Euch.« Hirata verneigte sich.
Der mittelgroße Mann trug einen schlichten Kimono in Grau und Schwarz, dazu eine Hose und einen Übermantel. Er hatte ein breites, unauffälliges Gesicht und wirkte unscheinbar - ein Mann, der in einer Menschenmenge nicht aufgefallen wäre. Doch der äußere Eindruck täuschte. Vor sieben Jahren war Hirata in Ausübung seiner Pflicht schwer verwundet worden und hinkte seitdem leicht. Ein schwächerer Mann wäre an der Verletzung gestorben oder zum Krüppel geworden, doch Hirata hatte sich mit aller Kraft dagegen gestemmt und war in die Einsamkeit der Berge gezogen, wo er von einem Kriegermönch zu einem Meister der mystischen Kampfkünste ausgebildet worden war. Harte Übung hatte seinen Körper gestählt, sodass er kein überflüssiges Gramm Fett aufwies und nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen schien. Geheime Rituale hatten überdies Hiratas Geist, seinen Instinkt und seine Wahrnehmungsfähigkeit geschärft und seinem einstmals jugendlichen Gesicht einen eigenartigen Ausdruck tiefer Weisheit verliehen, wie er sonst nur alten Menschen eigen ist. Hirata galt als der gefürchtetste Kämpfer in ganz Edo.
Masahiro stieß einen gellenden Kampfschrei aus, sprang auf Hirata zu und versetzte ihm einen harten Tritt in die Magengrube. Hirata stöhnte auf in gespieltem Schmerz, ließ sich nach hinten fallen und schlug dumpf auf dem Boden auf. Masahiro warf sich auf ihn. Als die beiden lachend miteinander rangen, rief Reiko: »Masahiro! Begrüßt man so einen Gast?«
Hirata ließ sich von Masahiro auf den Bauch drehen, und Masahiro setzte sich auf Hiratas Rücken, hielt ihn geschickt am Boden und rief: »Gewonnen!«
»Ja, ja, ich ergebe mich!«, stöhnte Hirata. »Lass mich jetzt mit deinem Vater sprechen ... falls er mit einem Mann reden will, der von einem Jungen besiegt wurde.«
Sano erzählte seinem Freund und Vertrauten von der Entführung Chiyos, während Reiko den Männern Sake einschenkte. »Ich habe noch keinen Verdacht, wer der Täter sein könnte«, schloss Sano. »Nachdem ich mit Chiyo gesprochen hatte, habe ich ihre Bediensteten vernommen, aber die haben nichts gesehen. Ich brauche deine Hilfe bei der Suche nach Hinweisen.«
»Ich werde mein Bestes tun«, antwortete Hirata, ohne auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, ob er sich um eigene dringende Amtsgeschäfte kümmern musste. Für ihn war es eine selbstverständliche Pflicht, seinem obersten Herrn zu helfen, dem er die Treue geschworen hatte. »Ich habe gewisse Verbindungen, die sich als nützlich erweisen könnten.«
»Ich will auch helfen!«, meldete Masahiro sich zu Wort.
Die Erwachsenen musterten ihn verwundert. »Und wie?«, fragte Sano.
»Ich kann nach Spuren suchen!«, antwortete Masahiro voller Eifer. »Und ich kann Zeugen und Verdächtige vernehmen. Ich werde den Verbrecher fassen, wenn ihr mich lasst!«
Hirata kicherte. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«
»Unser Sohn spielt zu oft Ermittler auf Verbrecherjagd«, seufzte Reiko.
»Ich spiele nicht«, widersprach Masahiro. »Ich übe!«
»Ja, und das ist auch gut so«, erklärte Sano. »Aber hier geht es um eine richtige Ermittlung, nicht um eine Übung. Den Verbrecher, den wir suchen, gibt es wirklich. Es wäre zu gefährlich für dich.«
»Wenn jemand mich angreift, kann ich mich schon verteidigen.« Masahiro ließ nicht locker.
Ja, das hatte er schon unter Beweis gestellt, trotzdem sagte Reiko: »Eine richtige Ermittlung ist zu kompliziert für dich. Das ist eine Sache für Erwachsene, nicht für Kinder.«
»So ist es.« Sano nickte. »Du bist noch zu jung.«
»Bin ich nicht«, widersprach Masahiro. »Ich bin schon fast zehn.«
»Aber du führst dich auf, als wärst du halb so alt«, wies Reiko
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