Der Wolkenpavillon
versuchte sich aufzusetzen und griff sich voller Panik an die Brust.
Ihre Mutter beschwichtigte sie sanft. »Beruhige dich, mein Schatz«, flüsterte sie. »Dein Sohn ist in Sicherheit.«
»Ich will nach Hause!«, rief Chiyo. »Ich will zu meinen Kindern und zu meinem Mann. Sie brauchen mich.«
»Ich habe nach ihm geschickt«, sagte Major Kumazawa. »Er wird dich nach Hause holen, sobald du kräftig genug bist für die Reise.« Er blickte Sano an. »Seid Ihr jetzt endlich fertig?«
»Bald«, erwiderte Sano, ohne den Blick von Chiyo zu wenden. »Was ist am Tempel geschehen?«
Chiyo ließ den Blick schweifen, als wollte sie in die Vergangenheit schauen. »Mein kleiner Junge fing an zu weinen«, sagte sie dann. »Er war so viele Leute und so einen Lärm nicht gewöhnt. Ich wollte ihn irgendwohin bringen, wo es ruhiger war. Deshalb verließ ich meine Diener und ging mit ihm in einen Garten. An mehr kann ich mich nicht erinnern, bis ... bis ...«
Chiyo riss die Augen auf vor Entsetzen, als sie irgendetwas erblickte, das nur sie allein sehen konnte. »Nein!«, schrie sie. »Aufhören!« Sie wand sich unter der Decke und schlug um sich. »Hilfe! Hilfe!«
Sano erkannte, dass Chiyo die Vergewaltigung noch einmal durchlebte. Ihre Mutter versuchte sie zu beruhigen, aber der Tränenstrom wollte nicht versiegen.
»Das reicht jetzt!«, sagte Kumazawa zu Sano. Sein väterlicher Beschützerinstinkt war stärker als sein Pflichtgefühl dem höherrangigen Sano gegenüber, stärker sogar als ihr gemeinsamer Wunsch, den Vergewaltiger zu fassen. »Geht bitte.«
7.
Auf einem Hügel hoch über der Stadt erhob sich der Palast zu Edo, eine riesige, verschachtelte Anlage aus Steinmauern, Giebeldächern und Wachtürmen, die im Regen schimmerten und die im Nebel verschwommen, beinahe körperlos und schwebend erschienen. Als die Dämmerung in den Abend überging, flackerten zahllose Fackeln auf, sodass der Palast aussah wie ein riesiges Schiff auf dem dunklen Meer.
Hier, auf dem Palastgelände, befand sich Sanos Anwesen. Die eigentliche Villa, von einer Mauer geschützt, umschloss schattige Innenhöfe und blühende Gärten. In den Privatgemächern im Herzen der Villa unterzog Reiko sich soeben der allabendlichen Geduldsprobe, ihre Tochter ins Bett zu bringen.
»Komm, Akiko, es wird Zeit«, sagte sie und tätschelte den Futon, der auf dem Fußboden ausgebreitet war.
»Neiiin!«, rief Akiko.
Reiko seufzte. Akiko war ein launisches Mädchen, das sich von einem Moment auf den anderen von einem fröhlichen, artigen Kind in einen kleinen Dämon verwandeln konnte. Manchmal fragte Reiko sich, ob ihre schrecklichen Erlebnisse während der Schwangerschaft die Persönlichkeit ihrer Tochter beeinflusst hatten. Oder lag es daran, dass sie Akiko allein gelassen hatte, als sie mit Sano nach HokKaidō gereist war, um den entführten Masahiro zu retten? Manchmal kamen Mutter und Tochter gut miteinander aus, doch oft beharkten sie einander wie feindliche Kriegsherren.
»Nun komm schon, Akiko«, sagte Reiko. »Es ist spät, und du bist müde.«
»Ich bin nicht müde!«, widersprach Akiko.
Ihr Gesicht verzerrte sich zu einem Ausdruck, der einen ihrer beängstigenden Wutausbrüche ankündigte. Reiko - entschlossen, mit Akiko und deren Launen fertig zu werden - widerstand der Versuchung, das Kindermädchen zu rufen.
»Ich will nichts mehr hören«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. »Du gehst jetzt ins Bett.«
Akiko jammerte, kreischte und wälzte sich auf dem Boden, als wäre sie von bösen Geistern besessen. Reiko versuchte das Mädchen zu beruhigen, sie schimpfte, drohte, bettelte. Als Akiko endlich so erschöpft war, dass sie gehorchte, kam Reiko sich vor, als hätte sie eine Schlacht geschlagen.
Als sie das Zimmer verließ, kam Sano ihr auf dem Flur entgegen. Er lächelte, doch Reiko spürte seine Anspannung. »Was ist passiert?«, fragte sie besorgt.
»Keine Angst, es gibt keine neuen Aufstände«, erwiderte Sano. »Ich habe heute Major Kumazawa getroffen, meinen Onkel.«
»Oh«, machte Reiko und dachte bei sich: Das wurde aber auch Zeit.
In den Wohngemächern zog Sano seine vom Regen durchnässte Kleidung aus, und Reiko half ihm in ein trockenes Gewand. »Also hast du endlich beschlossen, Verbindung zu deinem Klan aufzunehmen«, sagte sie.
»Nein«, entgegnete Sano. »Mein Onkel ist zu mir gekommen und hat mich um Hilfe gebeten.« Er erzählte von der vermissten Chiyo und davon, dass er den ganzen Tag in Asakusa gewesen war, um nach
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