Der Wolkenpavillon
zufrieden drein, dass Sano sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen ließ, während Kumazawa ihn zornig anstarrte. Es musste ihn schrecklich wütend machen, dass ausgerechnet Sano, dieser vom Klan Verstoßene, in eine solche Machtposition aufgestiegen war. Obwohl dem Major bewusst war, dass Sano ihm soeben einen Befehl erteilt hatte, fragte er: »Könnt Ihr wenigstens bis morgen warten?«
»Nein.« Zwar widerstrebte es Sano, Chiyo weiteren Schmerz zuzufügen, aber je mehr Zeit verging, desto größer war die Gefahr, dass wertvolle Erinnerungen verloren gingen. »Ich werde ganz behutsam vorgehen, ich gebe Euch mein Wort.«
Kumazawa erhob sich widerstrebend. »Also gut.«
*
Sano und Major Kumazawa begaben sich in die Frauengemächer und betraten ein Zimmer, in dem Chiyo unter einer dicken Decke im Bett lag, die Augen geschlossen. Ihre Mutter und der Arzt knieten jeder auf einer Seite. Chiyo sah klein und zerbrechlich aus unter der schweren Decke. Die rechte Seite ihres Kopfes war geschoren, sodass eine hässliche rote, mit groben Stichen genähte Schnittwunde in der Kopfhaut zu sehen war. Erschüttert starrte Kumazawa darauf.
Der Arzt war ein Mann mittleren Alters in einem dunkelblauen Mantel, dem Kennzeichen seines Berufs. »Der Schnitt ist nicht tief«, erklärte er, während er eine Salbe auftrug, einen Wattebausch auf die Wunde legte und einen Verband um den Kopf der Patientin wickelte. »Er wird wieder ganz verheilen.«
»Und wie sieht es in ihrem Kopf aus?«, fragte Major Kumazawa.
»Das kann ich noch nicht sagen«, antwortete der Arzt. »Dazu ist es noch zu früh.«
»Ist sie bewusstlos?«
»Nein, sie ist nur benommen. Ich habe ihr ein Mittel gegeben, das den Schmerz lindert und damit sie schlafen kann.« Der Arzt nahm ein Tablett vom Bett, auf dem seine Instrumente, Chiyos Haarspangen sowie blutige Tücher lagen. »Morgen früh komme ich wieder«, sagte er, verbeugte sich und ging.
Kumazawa kniete sich am Fußende des Bettes hin, sichtlich besorgt über den Zustand seiner Tochter. Seine Gemahlin blickte Sano an. Sie war offenbar zu schüchtern - und zu aufgeregt -, das Wort an den Kammerherrn zu richten. Chiyos Lider flatterten, dann schlug sie die Augen auf und blickte sich um. Ihre Pupillen waren schwarz und erweitert von den Medikamenten. Sie schaute Sano an und sagte mit leiser, stockender Stimme: »Ich danke Euch ... dass Ihr mich ... gerettet habt ...«
Ihre Worte rührten Sano. Selbst in ihrem elenden Zustand legte Chiyo ein besseres Benehmen an den Tag als ihr Vater. Sano kniete sich neben sie. Wieder fiel ihm auf, wie sehr sie seiner Mutter Etsuko ähnelte. Sie hatte das gleiche hübsche, anziehende Gesicht. Sano musste daran denken, wie er seine Mutter einst in einer ähnlichen Situation vernommen hatte. Auch Etsuko war damals benommen und schläfrig gewesen von Medikamenten. Allerdings war Etsuko eine Tatverdächtige gewesen und nicht das Opfer eines Verbrechens, so wie Chiyo.
»Kammerherr Sano wird den Mann fassen, der dir das angetan hat«, sagte Major Kumazawa. »Aber erst muss er dir ein paar Fragen stellen.« Aber nur ein paar!, besagte der warnende Blick, den er Sano zuwarf.
Chiyo nickte schwach, und Sano begann mit ruhiger Stimme: »Erinnert Ihr Euch, dass Ihr in Asakusa herumgeirrt seid, bevor ich Euch gefunden habe? Könnt Ihr mir sagen, wie Ihr dorthin gekommen seid?«
Ein unbestimmter Ausdruck trat in ihre Augen. »Als ich aufgewacht bin, lag ich in einer Gasse. Der Kopf tat mir weh. Es hat geregnet. Ich bin aufgestanden, aber mir war so schwindelig, dass ich kaum gehen konnte. Ich wusste nicht, wo ich war, und bin einfach weitergegangen. Als ich ein kleines Mädchen war, hat Vater mir einmal gesagt: ›Wenn du dich verlaufen hast, dann weine nicht und ruf nicht um Hilfe, sondern geh so lange, bis du etwas siehst, das du kennst.‹«
Sano bewunderte Chiyos Tapferkeit. Und Kumazawa hatte gut daran getan, seine Tochter früh zur Selbstständigkeit zu erziehen. »Habt Ihr jemanden gesehen, als Ihr aufgewacht seid?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein ... Ich glaube nicht, dass da jemand gewesen ist ...«
Vorerst vermied Sano die Frage, was der Entführer Chiyo angetan hatte. Vielleicht bekam er genug Informationen über den Täter, ohne die Vergewaltigung direkt anzusprechen. »Könnt Ihr Euch daran erinnern, dass Ihr mit Eurem Kind zum Awashima-Tempel wolltet?«
»Mein kleiner Sohn ...« Plötzliches Entsetzen spiegelte auf Chiyos Gesicht. »Wo ist mein Kind?« Sie
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