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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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ich habe jemanden gesehen.«
    »Am Tempel?«
    »Nein, nicht am Tempel. Und auch nicht an dem Tag, als wir dort waren, sondern einen Tag zuvor. Hier, bei uns, draußen vor dem Kloster.«
    Vielleicht hatte der Entführer die Nonnen über längere Zeit hinweg im Auge behalten. Gut möglich, dass er das Kloster beobachtet und auf die Gelegenheit gelauert hatte, eine der Nonnen zu entführen. »Erzähl mir mehr darüber«, drängte Sano.
    »Es war nach dem Morgengebet. Ich hatte mich nach draußen geschlichen, weil ...« Ume errötete. »Wenn die Mönche in die Stadt gehen, kommen sie hier vorbei. Und es gibt da einen, der ... nun ja, er lächelt mir jedes Mal zu, wenn er vorbeigeht.« Schuldgefühle schwangen in ihrer Stimme mit. »An dem Tag ist er nicht gekommen. Aber ich habe einen Mann gesehen, der auf der Straße stand und zu uns herüberschaute.«
    »Wer war dieser Mann?«
    »Das weiß ich nicht. Ich hatte ihn noch nie gesehen.«
    »Hast du ihn später noch einmal gesehen?«
    »Nein.«
    »Kannst du ihn beschreiben?«
    »Ich konnte ihn nicht allzu gut sehen. Und als er mich dann sah, hat er sich weggedreht und ist davongegangen.« Ume blinzelte und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. »Ich weiß nur, dass er groß und kräftig war. Seine Haare waren so kurz, dass die Kopfhaut durchschimmerte. Und er war alt, so um die dreißig.«
    Sano runzelte die Stirn. Er war dreiundvierzig - also war er für Ume wahrscheinlich uralt. »Wie war er angezogen?«
    »Er trug einen dunkelblauen Kimono.«
    Das half ihm nicht weiter. Fast jeder gemeine Bürger in Japan besaß einen Kimono, der mit Indigo eingefärbt war. Und viele ließen sich das Haar sehr kurz schneiden, um nicht von Läusen und Flöhen geplagt zu werden. »War an seinem Gesicht irgendetwas Besonderes?«
    »Er sah so aus, als hätte er sich längere Zeit nicht rasiert.« Umes Miene hellte sich auf, als ihr weitere Einzelheiten einfielen. »Ja, und da war eine verschorfte Wunde, ungefähr hier.« Sie tippte sich an den rechten Wangenknochen. »Als hätte er mit jemandem gekämpft oder einen Unfall gehabt.«
    Leider war auch das nicht gerade etwas Außergewöhnliches. Sano bat Ume noch einmal, genau nachzudenken, doch dem Mädchen fiel nichts mehr ein.
    »Hast du einen Ochsenkarren gesehen?«, fragte Sano.
    »Nein, tut mir leid«, antwortete das Mädchen und blickte unglücklich auf Tengu-in, die noch immer betete, sich vor- und zurückwiegte und offenbar nichts von dem mitbekam, was um sie herum geschah.
    Sano überlegte. Der Fahrer konnte seinen Ochsenkarren in der Nähe abgestellt haben, wo man ihn nicht sah. Also konnte der Mann, den Ume gesehen hatte, der Fahrer des Ochsenkarrens gewesen sein - und vielleicht der Entführer von Tengu-in, Chiyo und Fumiko und von Jirochos Tochter.
    »Danke«, sagte Sano. »Du hast mir sehr geholfen.«
    »Ihr werdet den Mann fassen, nicht wahr?«, sagte Ume vertrauensvoll.
    »Ja«, gelobte er. »Ich werde ihn fassen.«

14.

    Der Marktplatz in Ueno lag am Fuß des Hügels, auf dem sich der Kannei-Tempel erhob. Hirata ritt an den Läden und Marktbuden, Teehäusern und Essensständen vorbei, an denen Kunden die örtliche Spezialität aßen: Reis, in Lotosblättern gedämpft.
    Tänzer, Puppenspieler und Akrobaten unterhielten die Menschenmenge, die wegen des anhaltenden Regens jedoch kleiner war als sonst. Doch hinter der bunten, fröhlichen Fassade des Marktes sah Hirata auch dessen düsteres Gesicht. Tätowierte Verbrecher streiften umher, hielten nach Händlern Ausschau, die nicht hierher gehörten, und achteten auf Taschendiebe und andere Konkurrenten, die in fremdem Revier zu wildern versuchten, denn Ueno gehörte zu Jirochos Gebiet. Er kontrollierte die Vergabe der Läden und Marktstände, der Teehäuser und Imbissbuden, er kassierte Schutzgelder von Händlern und Kaufleuten, er bezahlte die Spenden an die Tempel, beglich die Steuern und Abgaben an die Regierung und steckte dafür einen großen Teil der Einnahmen in die eigene Tasche. Hier, auf diesem Mark, hatte Jirochos Tochter Zuflucht gesucht, nachdem ihr Vater sie verstoßen hatte.
    Während Hirata zwischen den Reihen der Marktstände hindurchritt, hielt er Ausschau nach einem zwölfjährigen Mädchen, das allein unterwegs war. Doch auf dem Markt gab es zahlreiche Kinder ohne Eltern. In der Hoffnung auf etwas zu essen oder auf ein Almosen suchten die Waisen von Edo häufig die Marktplätze in der Nähe der Tempel auf. Hirata sah Scharen von barfüßigen Kindern in

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