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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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zufolge einst gehabt hatte, und sagte: »Wahrscheinlich hat der Mann, der Euch das angetan hat, zwei weitere Frauen entführt und vergewaltigt. Die eine ist meine Cousine. Ich muss den Täter fassen, bevor er noch mehr Böses tut, deshalb brauche ich Eure Hilfe.«
    Doch Sanos Worte konnten den unsichtbaren Panzer, in den die Nonne sich zurückgezogen hatte, nicht durchdringen. In einem letzten, beinahe zornigen Versuch hob Sano die Stimme und fragte mit drängendem Unterton: »Wie sieht er aus? Wohin hat er Euch verschleppt?«
    »Es hat keinen Sinn«, sagte die Äbtissin, während Tengu-in unbeirrt ihre stummen Gebete sprach und sich in gespenstischer Lautlosigkeit vor- und zurückwiegte. »Selbst wenn sie Euch hören könnte, würde sie nicht antworten.«
    Sano erhob sich widerstrebend. Er wollte auf keinen Fall mit leeren Händen gehen. »Ich muss die Novizinnen befragen, die am Tag der Entführung mit Tengu-in am Zōjō-Tempel waren.«
    »Dann fangt mit Ume an«, sagte die Äbtissin und winkte das Mädchen heran. »Sie war dabei.«
    Zögernd trat Ume auf Sano zu und verbeugte sich. Furcht spiegelte sich in ihren Augen.
    »Was ist am Tempel geschehen?«, fragte Sano. »Wie kam es, dass Tengu-in so plötzlich verschwunden war?«
    »Ich weiß es nicht« antwortete das Mädchen in kaum vernehmlichem Flüsterton, ballte die Fäuste in den Ärmeln ihres Gewandes und warf der Äbtissin einen ängstlichen Blick zu.
    »Ich möchte unter vier Augen mit Ume sprechen«, sagte Sano zur Äbtissin.
    Die Frau musterte ihn missbilligend, doch sie wusste, dass sie seine Bitte nicht zurückweisen konnte. »Ich warte vor dem Eingang«, sagte sie und verließ die Kapelle.
    Als sie gegangen war, wandte Sano sich an das Mädchen: »Wenn du ein Geheimnis hast, das die Äbtissin nicht erfahren soll«, sagte er, »bei mir ist es gut aufgehoben.«
    Das Mädchen verzog das Gesicht. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Es war meine Schuld, dass Tengu-in entführt worden ist.«
    Sano konnte nicht glauben, dass dieses unschuldig wirkende Mädchen etwas mit der Entführung zu tun hatte. »Wieso?«
    »Wir sollten bei Tengu-in bleiben«, erwiderte Ume und begann zu schluchzen. »Ich hätte auf sie aufpassen müssen.« Sie blickte auf Tengu-in, die von alledem nichts mitzubekommen schien. »Aber ich bin mit den anderen Novizinnen vorausgelaufen, obwohl Tengu-in zu langsam war und nicht mit uns mithalten konnte.«
    Sano stellte sich vor, wie die alte Frau im Schlepptau ausgelassener junger Mädchen über das Tempelgelände gehumpelt war. Vielleicht hatte Ume tatsächlich ihre Pflicht vernachlässigt, dennoch sagte Sano: »Dich trifft keine Schuld. Du konntest ja nicht wissen, dass Tengu-in in Gefahr ist.«
    »Trotzdem, ich hätte bei ihr bleiben müssen.« Das Mädchen senkte beschämt den Kopf. »Aber da waren ein paar Novizen ein Stück die Straße hinunter, und da sind die anderen Mädchen und ich ...«
    Sano begriff. Ume und die anderen Mädchen hatten mit den Novizen herumschäkern wollen, deshalb waren sie vor ihrer Aufpasserin geflüchtet. In einen religiösen Orden einzutreten bedeutete nun einmal nicht, dass man seine natürlichen menschlichen Bedürfnisse verlor.
    »Ich fühle mich schuldig!«, sagte Ume weinend. »Ich wollte, ich könnte meinen Fehler wiedergutmachen!«
    »Das kannst du«, sagte Sano. »Hilf mir, den Mann zu fassen, der Tengu-in entführt hat. Als du mit den anderen am Zōjō-Tempel warst, habt ihr da irgendjemanden oder irgendetwas gesehen, das euch verdächtig vorkam?«
    »Nein«, antwortete Ume und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe mir das alles schon tausendmal ins Gedächtnis gerufen, aber da war nichts.«
    Aber Tengu-ins Entführer konnte schwerlich vom Himmel herabgefallen sein und sich die alte Frau geschnappt haben wie ein Adler seine Beute, um dann im Nichts zu verschwinden. Erst musste er sie in der Menge ausfindig gemacht haben, um dann zuzuschlagen, sobald sich die Gelegenheit bot. Mit anderen Worten: Er musste Tengu-in beobachtet haben.
    »Was war, bevor du und die anderen Mädchen Tengu-in allein gelassen habt?«, fragte Sano. »Ist dir jemand aufgefallen, der euch beobachtet hat?«
    Ume dachte nach, dann schüttelte sie den Kopf.
    »Ist euch jemand gefolgt?«
    »Ich ... weiß nicht, ich habe nur noch auf die Novizen geachtet ...« Ume stockte und runzelte die Stirn, als wäre ihr plötzlich eine Erinnerung gekommen.
    »Was ist?«, fragte Sano.
    »Mir fällt gerade ein,

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