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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Kumazawa seine eigenen Männer nach Chiyo hatte suchen lassen, wobei sie die Bewohner bedroht und eingeschüchtert hatten, doch der Gedanke, dass ein blutrünstiger Unterweltfürst auf Rachefeldzug ging, war für Hirata noch viel beängstigender.
    »Haltet Euch aus der Sache heraus!«, befahl er. »Kammerherr Sano und ich werden uns darum kümmern. Erzählt mir nur, was Ihr über die Entführung Eurer Tochter wisst.«
    Jirochos Miene war hart wie Stein geworden. »Bei allem gebotenen Respekt Euch und Kammerherr Sano gegenüber, aber diese Rechnung werde ich persönlich begleichen. Und jetzt geht bitte.«
    Der Tätowierte, der Hirata ins Haus gebracht hatte, führte ihn wieder zum Ausgang. Als sie auf der Straße waren, fragte Hirata kurz entschlossen: »Wo kann ich Jirochos Tochter finden?«
    »Wenn Jirocho es Euch nicht gesagt hat, werde ich es auch nicht tun!«, antwortete der Verbrecher. »Ich darf nicht über Dinge reden, die nur ihn etwas angehen.«
    Hirata bemerkte, dass die Aura des Mannes schwach war und dass er ihn leicht auf geistigem Wege beeinflussen konnte. Er richtete die geballte Kraft seines Willens auf den Tätowierten und fragte: »Wo ist das Mädchen?«
    »Auf ... auf dem Marktplatz«, antwortete der Mann stockend.
    »Wo wurde sie entführt? Und wo hat man sie gefunden?«
    »Am Shinobazu-See«, antwortete der Tätowierte und riss die Augen auf, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er gegen die Regeln der Bande verstoßen hatte.
    »Danke«, sagte Hirata. »Ich werde deinem Herrn und Meister nichts davon sagen.«
    *

    Die Äbtissin führte Sano in die von Kiefern beschattete Kapelle des Nonnenklosters. Im halbdunklen Innern - die Fensterläden waren geschlossen - erblickte Sano einen Altar, auf dem eine goldene Buddhastatue inmitten goldener Lotosblüten, brennender Kerzen und Weihrauchgefäßen aus Messing stand. Die Luft war erfüllt von einem schweren, bittersüßen Duft. Vor dem Altar kniete eine Nonne, in einen schlichten Umhang aus grobem Leinen gehüllt und ein weißes Kopftuch um den kahlen Schädel. Sie schien tief ins Gebet versunken und wiegte den Oberkörper langsam vor und zurück.
    »Seit sie entführt worden ist, betet sie nur noch«, sagte die Äbtissin mit leiser, trauriger Stimme. »Sie will mit niemandem mehr reden. Es ist, als lebte sie in ihrer eigenen Welt.«
    Jetzt begriff Sano, weshalb die anderen Nonnen Tengu-in als eine Last betrachteten. Als er und die Äbtissin sich dem Altar näherten, sah er in einer Nische eine kleine Gestalt stehen, die über Tengu-in zu wachen schien. Es war ein halbwüchsiges Mädchen mit unschuldigem, hübschem Gesicht. Ihr Haar wurde von einem Kopftuch bedeckt.
    »Das ist Ume«, sagte die Äbtissin, »eine unserer Novizinnen. Ich habe ihr den Auftrag erteilt, auf Tengu-in achtzugeben.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Gleich nachdem der Entführer sie freigelassen hatte, hat Tengu-in sich mit einem Messer in den Arm geschnitten.«
    Hatte sie versucht, sich zu bestrafen wegen der Vergewaltigung, die so viel Schande über sie gebracht hatte? Mitleid mit der alten Frau erfasste Sano. Er kniete sich vor den Altar, weit genug von Tengu-in entfernt, dass sie ihn nicht als Bedrohung betrachten konnte, aber nahe genug, dass er sie deutlich zu sehen vermochte. Entsetzt sah er, dass sie bis aufs Skelett abgemagert war.
    »Sie will nicht essen«, flüsterte die Äbtissin, »und nicht schlafen.«
    Sano betrachtete Tengu-ins Profil. Ihre Haut war bleich und wächsern, und die Knochen traten scharf hervor. Ihre Augen waren geschlossen, und die Lider sahen purpurn, fast schwarz aus. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut war zu hören.
    »Tengu-in ...«, sagte Sano leise.
    Sie schien ihn gar nicht zu bemerken. Ihre Lippen bewegten sich weiterhin, und ihr Oberkörper schaukelte noch immer in einem geheimnisvollen inneren Rhythmus vor und zurück.
    »Könnt Ihr mich hören?«
    Keine Reaktion. Die Novizin ließ ein leises, verzweifeltes Seufzen vernehmen, und die Äbtissin sagte: »Ich habe Euch gewarnt.«
    Doch Sano wollte nicht aufgeben. »Tengu-in, ich bin Kammerherr Sano Ichirō. Erzählt mir, was geschehen ist, nachdem man Euch entführt hatte.«
    Die Nonne sprach weiter ihr stummes Gebet. Ihr Gesicht war ausdruckslos, wie tot, und wurde nur vom flackernden Kerzenschein belebt.
    »Wer hat Euch entführt?«, fragte Sano. »War es jemand, den Ihr kennt?«
    Keine Antwort.
    Sano versuchte, sich an das freundliche Wesen zu richten, das Tengu-in der Äbtissin

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