Der Wolkenpavillon
nicht benutzen, denn hier türmten sich Schutthaufen und Berge aus altem Bauholz. Sano blickte die Palastmauer hinauf zu einem baufälligen Wachturm, der über die Mauerkrone ragte und bei dem das obere Stockwerk fehlte. Arbeiter waren damit beschäftigt, die Reste des Turmes mit der Hacke niederzureißen; den Schutt ließen sie auf den Haufen an der Straße unter ihnen fallen. Neben den Schuttbergen standen zwei Karren, vor die jeweils zwei Ochsen gespannt waren. Stumpfsinnig standen die mächtigen Tiere da und vertrieben mit dem Schwanz die lästigen Fliegen. Die beiden Fahrer, die einen dunkelblauen Kimono und ausgefranste Strohsandalen trugen, luden den Bauschutt auf die Karren.
Der eine Fahrer war Mitte dreißig und ein großer, kräftiger Bursche. Seine Haare waren so kurz geschoren, dass es aussah wie ein schwarzer Flaum auf seinem Schädel, und sein Bart war mehrere Tage nicht rasiert worden. Als Sano näher ritt, sah er, dass auf der rechten Wange des Fahrers eine große weiße Narbe prangte.
Sano beugte sich im Sattel zu Hirata hinüber. »Er sieht aus wie der Mann, den die Novizin vor dem Eingang des Klosters gesehen hat.«
Der Mann sagte irgendetwas zu seinem Kumpan, und dieser grinste.
»Ja. Aber seht Euch den anderen Burschen an«, sagte Hirata. »Er ist jünger, und ihm fehlen zwei Vorderzähne. Er sieht aus wie mein Verdächtiger.«
Sano nickte. »Dieses Rätsel werden wir schon noch lösen.«
»Ein Glück, dass wir beide Kerle auf einmal erwischen«, sagte Marume.
Als Sano und seine Leute sich den Ochsenkarren näherten, entdeckten die beiden Männer sie. Die lustigen Mienen wurden ernst, dann furchtsam, wie bei jemandem, der mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Die beiden ließen die Bretter fallen, die sie aufgehoben hatten, und sprangen auf den Bock eines Karrens, der bereits mit Schutt beladen war. Der große Mann schnappte sich eine Peitsche. »Los, ihr Biester, los!«, rief er und drosch auf die Ochsen ein.
Die Tiere setzten sich in Bewegung, trotteten die Ringstraße hinunter und zogen den schwer beladenen Karren hinter sich her. Die Arbeiter oben am Turm riefen: »He! Wir sind noch nicht fertig! Wartet!«
Sano und seine Männer setzten dem Ochsenkarren nach. Der Fahrer mit den fehlenden Vorderzähnen rief: »Schneller! Schneller!«, doch das schwer beladene Gefährt hatte keine Chance gegen die Reiter. Sano und seine Leute hatten den Karren rasch eingeholt. Die Fahrer sprangen vom Bock und suchten ihr Heil in der Flucht.
»Lasst sie nicht entkommen!«, rief Sano, während die beiden Männer sich einen Weg durch die Menge kämpften, sodass die Leute erschrocken zur Seite wichen.
Hirata schwang sich mit einem mächtigen Satz aus dem Sattel, warf den Jüngeren der beiden Männer zu Boden und hatte ihn in kurzer Zeit überwältigt. Marume und Fukida ritten seinen Kumpan nieder. Als sie ihn packen wollten, schlug und trat er wild um sich. Die Ermittler schwitzten und keuchten, als sie ihn endlich zu Boden gerungen hatten.
Von seinem Pferd aus musterte Sano die beiden Fahrer. »Ihr seid verhaftet«, sagte er.
»Wir haben nichts Verbotenes getan!«, beteuerte der Größere der beiden, dessen narbige Wange von Marume und Fukida auf den schmutzigen Boden gepresst wurde.
»Ich auch nicht!«, rief der andere Fahrer, den Hirata am Boden hielt.
»Warum wolltet ihr dann fliehen?«, fragte Sano.
Die beiden Männer schwiegen.
»Aha«, sagte Marume. »Offenbar fällt unseren neuen Freunden keine Ausrede mehr ein.«
*
Reiko ließ sich in ihrer Sänfte durch die Straßen von Edo tragen, über denen der Dunst des frühen Morgens hing. Sie wurde von Leutnant Tanuma und ihren anderen Leibwächtern begleitet. Gemeine Bürger, die unterwegs zur Arbeit waren, machten patrouillierenden Soldaten Platz. Straßenhändler boten frisches Wasser, heißen Tee und kleine Gerichte feil. An den Toren zwischen den Wohnvierteln geriet der dichte Strom aus Reitern und Fußgängern ins Stocken. Ladenbesitzer stellten am Straßenrand ihre Waren auf, damit sie den Kunden ins Auge fielen. Je näher Reiko und ihre Leute dem Zōjō-Tempel kamen, desto dichter wurde das Gewühl auf den Straßen, denn immer mehr Pilger, die Richtung Tempel zogen, mischten sich unter die Leute, während Scharen von Priestern, Mönchen und Nonnen zum Stadtkern unterwegs waren, um auf den Straßen zu betteln. Als Reiko den Marktplatz am Tempel erreichte, wimmelte es dort bereits von Menschen, darunter Scharen von Kindern und
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