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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Deckel der Kiste und ließ Fumiko hineinschauen. »Das habe ich dir mitgebracht«, sagte sie. »Möchtest du etwas?«
    Fumiko starrte voller Verlangen auf die duftenden Speisen.
    »Steck das Messer weg und setz dich zu mir in die Sänfte«, sagte Reiko. »Dann darfst du das alles aufessen.«
    Fumiko zögerte. Reiko sah im Gesicht des Mädchens die Furcht, sich in die Hände einer Fremden zu geben. »Was wollt Ihr?«, fragte es.
    »Einfach nur reden«, antwortete Reiko.

18.

    Fumiko schob das Messer unter ihre Schärpe, stieg mit Reiko in die Sänfte und fiel über die Speisen her. Gierig stopfte sie sich den Fisch, die Klöße, die Nudeln und die Küchlein in den Mund und schlang alles schlürfend und schmatzend hinunter. Es kam Reiko so vor, als würde sie einem wilden Tier gegenübersitzen, das sich über seine Beute hermacht.
    Erst jetzt, im beengten Innern der Sänfte, nahm Reiko den unangenehmen Geruch wahr, der von Fumiko ausging: den Geruch ihrer ungewaschenen Haare, die Ausdünstungen ihres schmutzigen Körpers, den Gestank nach Urin. Fumiko jedoch schien nichts davon zu bemerken. Sie aß und aß, bis die Holzkiste leer war. Dann spülte sie alles mit großen Schlucken aus dem Wasserkrug hinunter, den Reiko mitgebracht hatte, und wandte sich zur Tür.
    Reiko legte die Hand auf den Türgriff. »Erst reden wir.«
    »Lasst mich raus, oder ich bringe Euch um!« Fumiko griff nach dem Messer.
    Blitzschnell packte Reiko das Handgelenk des Mädchens. Es war dünn und zerbrechlich, schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen.
    »Lasst mich los!«, rief Fumiko.
    Als sie sich von Reiko loszureißen versuchte, trafen sich ihre Blicke - und irgendetwas, das keiner Worte bedurfte, ging vor zwischen der Frau und dem Mädchen. Vielleicht wurden sie sich plötzlich bewusst, unter welch seltsamen Umständen sie hier zusammen waren: auf der einen Seite Fumiko, die Tochter des Bandenführers, die zu einem halb verhungerten, wilden Straßenkind geworden war, und auf der anderen Seite Reiko, eine Frau aus vornehmer Familie, die wegen ihres Unabhängigkeitsstrebens ebenfalls zu einer Ausgestoßenen unter ihresgleichen geworden war. Vielleicht hatten sie mehr gemeinsam, als ihnen bewusst war. Jedenfalls wehrte Fumiko sich nicht mehr. Als Reiko ihr Handgelenk losließ, blickte das Mädchen zwar wütend drein, blieb aber sitzen.
    »Worüber wollt Ihr reden?«, fragte sie.
    »Über deine Entführung.«
    Fumiko blickte Reiko erstaunt an. »Woher wisst Ihr davon?«
    »Ein Freund von mir hat es von der Polizei erfahren.«
    »Die Polizei?« Plötzlich blickte Fumiko furchtsam aus dem Fenster der Sänfte, als befürchtete sie, in eine Falle getappt zu sein. »Wir können keine Polizei brauchen.«
    Mit »wir«, meinte Fumiko die Bande ihres Vaters, nahm Reiko an. Nicht alle Polizisten steckten mit Jirocho unter einer Decke, und um die Beamten, die versuchten, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, machte der Verbrecherfürst einen großen Bogen.
    »Keine Angst, ich habe keine Polizisten mitgebracht«, sagte Reiko. »Die Polizei weiß nur deshalb von deiner Entführung, weil dein Vater sie gemeldet hat.«
    »Mein Vater?« Ein hoffnungsvoller Ausdruck erschien auf Fumikos Gesicht. Es war, als würde die Sonne durch eine Wolkendecke brechen. Erwartungsvoll fügte sie die Frage an: »Hat er Euch geschickt?«
    Erst jetzt erkannte Reiko, was Fumiko durch den Kopf ging: Sie glaubte, ihr Vater habe sie, die Gemahlin des Kammerherrn, geschickt, um sie von der Straße zu holen und sie zu retten, so unwahrscheinlich das auch sein mochte. Es schmerzte Reiko, dass sie das Mädchen enttäuschen musste. »Nein, es tut mir leid.« Reiko sah, wie Fumikos hoffnungsvolle Miene der alten Traurigkeit wich. »Mein Gemahl schickt mich«, fuhr Reiko fort. »Er will den Mann fassen, der dich entführt hat - genau wie ich.«
    Fumiko runzelte die Stirn. Misstrauisch fragte sie: »Warum?«
    »Weil er dir wehgetan hat«, sagte Reiko. Sanos Cousine und die Nonne erwähnte sie nicht, sie wollte bei Fumiko nicht den Eindruck erwecken, als würde sie sich nur für die beiden anderen Frauen interessieren, zumal sie Zuneigung zu diesem Mädchen empfand, das ganz auf sich allein gestellt war. »Dein Entführer muss bestraft werden.«
    »Wenn er mir über den Weg läuft, töte ich ihn«, stieß Fumiko hervor. »So macht man es bei uns. Wir warten nicht, bis andere Leute uns rächen!«
    Reiko fragte sich, was für ein Leben Fumiko geführt hatte unter der rauen Bande ihres Vaters.

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