Der Wolkenpavillon
Halbwüchsigen.
Sie waren aus den Gassen hervorgekommen, in denen sie geschlafen hatten. Nun bettelten sie ausgehungert an den Essensständen. Reiko hatte Mitleid mit den zerlumpten, schmutzigen Jungen und Mädchen. Am liebsten hätte sie alle adoptiert, so wie sie schon einmal ein Waisenkind adoptiert hatte, den Sohn einer ermordeten Frau. Aber die Sache hatte sich nicht so entwickelt, wie Reiko es sich damals erhofft hatte. Den Jungen hatten seine schrecklichen Erlebnisse so sehr geprägt, dass er keine Zuneigung zu Reiko entwickelt hatte, trotz ihrer Bemühungen, ihm ein gutes Zuhause zu geben. Er mied die Menschen und arbeitete lieber in den Stallungen mit den Pferden. Eines Tages würde er ein hervorragender Pferdepfleger sein und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen können und vielleicht sogar seine Vergangenheit vergessen.
Jetzt aber hielt Reiko nach einem zwölfjährigen Mädchen in einem grün-weißen Kimono Ausschau. Vielleicht konnte sie heute wieder ein Kind aus der Not retten.
Lautes Gebell riss Reiko aus ihren Gedanken. Sie steckte den Kopf aus dem Fenster der Sänfte und sah ein Stück die Straße hinauf ein Rudel streunender Hunde - große schwarze und braune Tiere. Ursprünglich kamen die Hunde Edos von den Anwesen der daimyo, wo sie früher als Jagdhunde gezüchtet worden waren. Doch der Shōgun, ein gläubiger Buddhist, hatte Gesetze zum Schutz aller Tiere erlassen, hatte die Jagd verboten und es unter Strafe gestellt, Hunde zu verletzen oder zu töten. Der Shōgun war im Jahr des Hundes geboren und glaubte, die Götter würden ihm einen männlichen Nachkommen und Erben schenken, wenn er die Hunde unter Schutz stellte. Die Folge war, dass die Hunde sich unkontrolliert vermehrten.
Die daimyo hielten sich noch immer Wachhunde, und wenn es zu viele Würfe gab, endeten die Welpen auf den Straßen, denn es war unter Androhung der Todesstrafe verboten, sie zu ertränken. Außerdem war es den Samurai untersagt, an Hunden ein Schwert zu erproben, wie es früher üblich gewesen war. Unerwünschte Tiere wurden einfach ausgesetzt und sich selbst überlassen. Und so streunten sie in der Stadt herum und kämpften um das knappe Futter. Diese Streuner stellten eine Gefahr für alle dar, und nicht selten fielen Kinder ihnen zum Opfer.
Inmitten der Hunde, die sich nun auf dem Marktplatz zusammengerottet hatten, bemerkte Reiko plötzlich ein Aufblitzen von Grün. Sie schaute genauer hin und erblickte ein Mädchen in einem grün-weißen Kimono, das sich verzweifelt gegen mehrere Hunde wehrte, die nach ihm schnappten.
»Halt!«, rief Reiko den Sänftenträgern zu. Kaum hatten diese die Sänfte abgesetzt, war Reiko aus der Tür. »Leutnant Tanuma!«, rief sie. »Helft dem Mädchen!«
Tanuma und zwei andere Männer sprangen vom Pferd. Laut schreiend und mit dem Schwert wedelnd, scheuchten sie die Hunde fort. Die Leute in der Nähe achteten kaum darauf. Die Öffentlichkeit hatte gelernt, dass es besser war, sich bei Hundeangriffen herauszuhalten. Niemand wollte einen Hund verletzen, weil dann die Gefahr bestand, dass man verhaftet und hingerichtet wurde.
Reiko rannte zu dem Mädchen, das sich inzwischen aufgerappelt hatte. Neben ihr lag ein halb gegessener Fisch, um den sie und die Hunde gekämpft hatten.
»Fumiko -san «, rief Reiko, »ist dir etwas passiert?«
Das Mädchen zuckte zusammen, als es seinen Namen hörte. Die Furcht auf seinem schmutzigen Gesicht wich einem Ausdruck des Misstrauens, gepaart mit Zorn. »Wer seid Ihr?«
»Ich heiße Reiko. Ich bin die Gemahlin von Kammerherr Sano.« Reiko hielt dem Mädchen die Hand hin. »Ich möchte dir helfen.«
Fumiko wich zurück. »Fasst mich nicht an!« Ihre Stimme war rau, beinahe jungenhaft. »Lasst mich in Ruhe!« Sie drehte sich um und wollte davonrennen.
»Haltet sie auf!«, befahl Reiko ihren Begleitsoldaten.
Leutnant Tanuma streckte den Arm aus, um Fumiko festzuhalten, während die anderen Soldaten sie umringten. »Seid vorsichtig«, warnte Reiko. »Sie hat ein Messer.« In diesem Moment stach Fumiko bereits nach Leutnant Tanuma. Er riss die Hand zurück. Fumiko kauerte sich ängstlich inmitten des Kreises nieder, den die Soldaten um sie gebildet hatten. Offensichtlich fürchtete sie Reiko und die Männer genauso sehr wie die Hundemeute.
»Soll ich ihr das Messer wegnehmen?«, fragte Tanuma.
»Nein. Wartet.« Reiko eilte zu ihrer Sänfte und hob die Holzkiste mit den Speisen heraus. Dann ging sie zu den anderen zurück, öffnete den
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